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Man muss mich nicht lieben

| Andrea Florentin |

Jean-Claude erwartet nicht mehr viel vom Leben, und mit Sicherheit nicht, sich noch einmal zu verlieben. Bis er es eines Tages wagt, an jenem Tango-Unterricht teilzunehmen, den er seit Wochen schon heimlich von seinem Bürofenster aus beobachtet.

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Jean-Claude ist Gerichtsvollzieher – ein Beruf, der ihm wenig Sympathie einbringt, der aber auch irgendwie zu dem schweigsamen, verschlossenen Mann passt. Er ist 50, geschieden und einsam. Seinen Sohn, ebenfalls Gerichtsvollzieher, kennt er kaum. Freunde hat er keine, und selbst seine Sekretärin meidet ihn. Sonntags besucht er seinen missmutigen Vater im Altersheim und lässt dessen verbale Attacken wortlos über sich ergehen. Und wortkarg ist er generell – ob im Beruf, gegenüber seinem Sohn oder der jungen Frau, die er beim Tango-Kurs kennen lernt. Françoise bereitet eigentlich ihre Hochzeit vor, verschweigt dies aber Jean-Claude. Im Laufe der Tanzstunden erwachen zwischen den Beiden zaghaft Gefühle, mit denen sie ganz bestimmt nicht gerechnet hatten.

Doch glücklicherweise beschränkt sich der Film nicht allein auf diese Liebesgeschichte und umgeht auch die Falle einer übertrieben ästhetischen Stilisierung des Tangos. Stattdessen gelingt Stéphane Brizé ein subtiler Bruch mit dem Genre, indem er der romantischen Komödie zum Teil beißende Porträts beimischt. So lebt der Film zum Großteil von seinen Nebenfiguren, die sich als aussagekräftiger erweisen, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Alle parallel erzählten Geschichten handeln von der gleichen Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken: sei es der Vater im Altersheim, der die Besuche seines Sohnes zum Albtraum werden lässt und dabei jede Woche doch nichts sehnlicher erwartet; der Sohn, der seinen Beruf hasst, und sich nicht traut, es seinem Vater zu sagen; Françoise, die wie versteinert den Vorbereitungen ihrer Hochzeit beiwohnt, unfähig, auszusprechen, dass sie immer weniger an diese Ehe glaubt; oder eben der ungeschickte Jean-Claude, der alle Gesten der Zuneigung erst wieder erlernen muss, und für den scheinbar banale Dinge wie der Kauf eines Parfums wahre Prüfungen sind.

Das Thema spiegelt sich auch in der Form wider: Da es den Charakteren so schwer fällt, Gefühle in Worte zu fassen, liegt die Feinfühligkeit des Films in der Aussagekraft des Unausgesprochenen, der Blicke, Gesten, unterdrückten Wutausbrüche, des Schweigens. Der Film nimmt sich Zeit, zuzuhören und zu beobachten, und rückt in gewagt langen Kameraeinstellungen den Figuren quasi auf die Haut. Stéphane Brizé ist eine subtile, bittersüße Komödie gelungen über die Schwierigkeit, mit seinen Gefühlen, Träumen und Niederlagen in Einklang zu leben.