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Viennale – Suche und Aufbruch

Suche und Aufbruch

| Jörg Becker |

Mit Herbert Vesely würdigt das Filmarchiv Austria in seinem alljährlichen Viennale-Programm einen Wegbereiter des Neuen deutschen Films. Zusammengestellt wurde die Retrospektive vom Wiener Filmemacher und Autor Hans Scheugl.

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Sehr schnell und fast mühelos scheint der neue deutsche Film zumindest in den Tendenzen, wenn auch vielleicht nicht in den Resultaten, auf die Linie des modernen Filmemachens eingeschwenkt zu sein, die mit Orson Welles’ Citizen Kane über Bergmans Wilde Erdbeeren zu Resnais’ Hiroshima mon amour führt und stets um das eine bemüht ist: durch die ‚Suche nach der verlorenen Zeit’ Situation und Bewusstsein eines Menschen zu verdeutlichen.“ Joe Hembus, durch seine ironisch-provokante Bestandsaufnahme Der deutsche Film kann gar nicht besser sein bekannt geworden, schrieb 1962 in der kurzen Phase zwischen dem Oberhausener Manifest und dem Filmfestival von Cannes, zu welchem Herbert Veselys Das Brot der frühen Jahre als offizieller Beitrag der BRD geladen war, von der „Recherche”, die Veselys Verfilmung nach Heinrich Böll der Form nach darstellt. Eine Suche, ein Aufbruch zeigt sich ebenfalls in der Haltung des Helden Walter Fendrich, der sich nach einem Blick in die Augen eines Mädchens sein absehbares Leben („Ich blättere die Zukunft um wie ein Fotoalbum“) aus der geläufigen Bahn herausreißt. Es ist der Augenblick des existenzialistischen Hungers, der Entscheidung zur Revolte gegen das „ganz passable Leben“, welches das stetige Wirtschaftswunder versprach, zugleich der Moment forschender Erinnerung, um zu sich selbst zurückzufinden.  In seinem ersten Treatment erklärte Vesely: „Das Vergangene und das Gegenwärtige durchdringen sich. Der Blick ist gleichzeitig und überall. Keine Handlung mit Rückblenden, sondern gleichzeitige Abläufe: Reflexionen, Möglichkeiten, Wirklichkeiten. Diese Verschränkung der Ebenen erzeugt ein wachsendes Bewusstsein, das Bewusstsein des Walter Fendrich, 23,  Elektromechaniker und Spezialist für Waschmaschinen, an diesem Montag, dem 14. März.“

Friedrich Luft beanstandete den „Filmclub-Avantgardismus“, dessen „Hörner“ sich der junge Regisseur „schon vor Jahren abgestoßen haben müsste“; dagegen galt größtes Lob der Kameraführung von Wolf Wirth, doch anscheinend nur, um es gegen die Vorwürfe formalistischer Abschweifungen und Überstilisierung ins Feld zu führen. „Dieser Mallarmé-hafte Wille zum ‚faire obscur’ macht es praktisch unmöglich, diesem Film zu folgen…“ hieß es in der Libération, doch die französische Rezeption blieb gegenüber der deutschen Presse eher gutwillig: „Das Brot der frühen Jahre, das ist Marienbad korrigiert durch Cléo…. Vesely übersetzt diese Odyssee des Herzens in Bilder, die sehr faszinieren. Eine individuelle Erscheinung, die wir lange nicht in Deutschland beobachten konnten.“ (Le Figaro). Der Film war ein Politikum, stand für „Oberhausen”, das „Papas Kino“ für tot erklärt hatte, und wurde von der Branche verdonnert – so äußerte sich Vesely noch 1993 sinngemäß  in filmwärts. Auch jüngere Handbücher attestieren „kapriziöse Kamerakunststücke” (Norbert Grob) und vor allem das Epigonenhafte vom Brot der frühen Jahre in dem man Alain-Resnais-Anteile entdeckte. Darsteller  wie Christian Doermer, Vera Tschechowa und vor allem Karen Blanguernon, deren wunderbar enthobenes Gesicht aus Claude Chabrols Die Unbefriedigten bereits bekannt war, besitzen bei Vesely die Präsenz von Nouvelle-Vague-Akteuren. Vielleicht trifft es zu, dass sich mit Veselys erstem Spielfilm der Geist der Neuen Deutschen Welle quasi prähistorisch materialisierte, vier Jahre, bevor mit Kluges Abschied von gestern und Schlöndorffs erster Literaturverfilmung Der junge Törleß eine breitere Tendenz für Aufsehen sorgte…

Der 1931 in Wien als Sohn eines Generals geborene Vesely besuchte nach der Matura die Filmklasse von Prof. Boerger und Prof. Joseph Gregor und nahm zeitweilig Schauspielunterricht. Mit einer 16mm-Bolex-Kamera dreht er bereits 1951 einen Kurzfilm nach Kafkas In der Strafkolonie. Mit dem 35mm-Kurzfilm An diesen Abenden, nach einem Trakl-Gedicht, geht er auf Filmclub-Tournee; der expressionistische Film erinnert in seinem Umgang mit Geräuschen etwas an Carl Theodor Dreyers Vampyr und zeigt bereits Nähe zu späteren vom Nouveau roman beeinflussten Filmen. Nach Preisen auf dem Experimentalfilmfestival New York folgt die Möglichkeit, den von Hans Abich (Filmaufbau Göttingen) finanzierten Film nicht mehr fliehen mit dem schmalen Budget von 90.000 DM in einer spanischen Wüstengegend zu drehen, einen Film, den das New Yorker MoMA später in seine Filmsammlung aufnimmt. Auch hier ist die Wirkung aus dem strukturellen Aufbau gewonnen; der Ausnahmefilm zum 50er-Jahre-Konfektionskino sucht keine Handlung zu erzählen, vielmehr eine Situation zu analysieren, die „nicht mehr fliehen“ heißt. Statt sich am narrativen Band zu bewegen, reiht er psycho-physische Zustände aneinander. Herbert Vesely, dessen Bezug zur musikalischen Form sich durch seinen Kontakt mit dem Autor und Komponisten Gerhard Rühm intensivierte, hat die Fuge im Sinn, ein durch alle Wiederholungen in Abwandlungen sich durchsetzendes Muster. These: der experimentelle, musikalische Anteil an der frühen Formbesinnung inmitten der Wüste eines abgehalfterten deutschsprachigen Kommerzkinos war österreichischer Herkunft. Vesely stand für die Rückgewinnung der Form, die Besinnung auf ästhetische Möglichkeiten.

La fuga – Flucht, Aufbruch – die existenzialistischen Fragen zwischen Lebensimpuls, Entscheidung und Gleichgültigkeit visualisiert Vesely äußerst formbewusst. „Er scheint einen neuen Impressionismus schaffen zu wollen“ schrieb Le Figaro im Mai 1962. Nach seinem Hauptwerk – Das Brot der frühen Jahre, das Vesely seinen festen Platz in der Filmgeschichte sichert, entstehen vor allem TV-, Industrie- und Kurzfilme. 1980 dreht Vesely eine Künstlerbiografie über das exzessive Leben des Wiener Expressionisten Egon Schiele (mit Mathieu Carrière, Jane Birkin und Christine Kaufmann), das die Kritik als „kunstgewerbliches Puzzlespiel“ abqualifiziert. Plaza Real (1987) erzählt die Story eines Architekten, der entdeckt, dass seine Frau ein Doppelleben als Callgirl führt.  Als Vesely im Jahr 2002 starb, befanden sich in seiner Filmografie gerade mal fünf Kinospielfilme. Das ist wenig für einen Pionier, aber symptomatisch für das Risiko des zu früh Gekommenen.