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Der freie Wille – Jürgen Vogel im Gespräch

„ Was wissen wir über die Einsamkeit dieser Figur“

| Tiziana Aricò |

Jürgen Vogel über seine Rolle im mehrfach ausgezeichneten Drama „Der freie Wille“.

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Der Freie Wille zeigt den deutschen Charakterdarsteller Jürgen Vogel in seiner bisher härtesten Rolle. In dem im Wettbewerb der Berlinale 2006 vorgestellten Film spielt Vogel die Hauptrolle, ist Ko-Autor und Ko-Produzent. Die Arbeit wurde honoriert: Noch in Berlin erhielt der Film den Silbernen Bären für die künstlerische Gesamtleistung, beim diesjährigen Chicago Filmfestival wurde Vogel mit dem „Silver Hugo Award“ als Bester Darsteller ausgezeichnet.

Der Film hat auf der Berlinale große Aufregung ausgelöst.
Ja, angeblich gab es bei der Premiere auch Buhrufe, aber nicht von den Journalisten. Das war für mich eine sehr positive Überraschung, dass die Leute da durchgegangen sind. Natürlich waren sie aufgewühlt und geschockt, aber das ist bei dem Thema auch klar. Es ist auch okay, wenn sich jemand die Augen zuhält.

Warum war Ihnen der Film so wichtig? Sie sind ja auch Ko-Produzent und Mit-Autor.
Der Film ist ja nicht nur die Geschichte eines Vergewaltigers. Es ist auch die Geschichte von Theo Stöhr und Nettie, die beide ganz extreme Menschen mit ganz extremen Problemen sind und mit extremen Isolationen zu tun haben. Ich finde es wichtig, das Thema anders zu erzählen, als wir es immer erfahren. Unser Film ist ein Versuch der Auseinandersetzung mit Menschen. Wir wollen dahin gucken, wo andere nicht hingucken.

Der Film beginnt mit einer sehr langen Vergewaltigungsszene, man sieht aber auch im Laufe des Films eine sehr deutliche Masturbationsszene von Theo. Waren diese Details nötig?
Es war keine Detailaufnahme. Es war eine Totale. Er in seinem Raum und macht doch die natürlichste Sache der Welt, er onaniert. Uns interessiert da nicht, dass da jemand onaniert, sondern: Was erzählt uns das über die Figur? Wir haben auch keine Großaufnahme von dem Penis gemacht, aber manche interpretieren diese Szene so, auch wenn es nur ein Schwenk war. Ich finde das interessant. Das ist Teil von Theos Versuch, Sexualität zu leben, und so haben wir das auch gefilmt.

Hat es Sie viel Überwindung gekostet?
Schon, ja. Aber in diesem Fall wäre es eitel, zu sagen, nee, das kann man nicht. In diesem Fall fand ich das trockene Abfilmen eines Schwenks von einem, der onaniert, harmlos.

Wie ging es Euch als Schauspieler mit den Vergewaltigungsszenen?
Schlimm. Aber ich hätte es als falsch empfunden, nur zu zeigen, wie jemand versucht, in die Gesellschaft rein zu kommen. Nur mit dem Wissen, dass er das mal getan hat, ohne eine Vergewaltigung im Film gesehen zu haben. Angenommen, Du lässt das schön raus: Dann bist Du bei der Hauptfigur sofort dabei. Wenn der dann im Film erstmal nichts Schlimmes tut, dann bist Du bei dem. Das wollten wir nicht. Das sollte schwer sein. Wir sind radikal, indem wir diese Figuren im klassischen Sinne zerstören. Bei The Woodsman ist es nicht so. Da heißt es nur, er sei kleinen Mädchen zu nahe gekommen.

Aber dadurch haben Sie die Zuschauer auch in eine prekäre Situation gebracht. Man ist in derselben Zwickmühle wie die weibliche Hauptfigur.
Das ist gut. Es ging nicht darum, die Figur sympathisch darzustellen, das ist Interpretationssache. Wenn Ihr den sympathisch findet: Euer Recht oder auch nicht. Wir haben mit ihm Zeit verbracht. Wenn diese Zeit schon bedeutet, dass Du dadurch eine Nähe bekommst, dann ist das Dein Ding. Aber die Zeit müssen wir ihm opfern. Wenigstens verbringen wir mit ihm Zeit. Was wissen wir schon über einen Vergewaltiger? Was wissen wir über Einsamkeit dieser Figur, wie er versucht zu kämpfen? Gar nichts. Das war auch der Grund, den Film zu machen.

Wie habt Ihr Euch vorbereitet?
Wir haben alles getan, was man so tun kann. Wir haben Therapeuten, Psychiater, Gutachter getroffen. Wir waren in Kliniken, ich habe Interviews mit Tätern gemacht. Das ist alles wichtig gewesen, trotzdem haben wir am Schluss gemerkt, dass es nicht den Täter gibt. Der Film erzählt auch nicht die Geschichte von dem Täter, sondern von Theo Stöhr. Wir wollten keine Entschuldigung, denn es gibt keine Entschuldigung. Nettie verliebt sich in Theo, und es ist ihr Recht. Sie wusste nichts davon. Dann hat sie Probleme, von ihm wegzukommen, und das ist auch menschlich.

Was haben Sie durch den Film über sich erfahren? Hat jeder Mann so ein Gewaltpotenzial in sich?
Das kann ich nicht verallgemeinern. Ich hab gestern eine Reaktion gehört, die interessant war. Auf die Diskoszene haben mich viele angesprochen: Alter, das kenne ich. Da stehst Du in der Disko mit einem Wodka in der Hand, siehst ein Mädchen, guckst ihr auf den Hintern und denkst Dir: Puhh! Eigentlich willste ja auch nichts machen, außer Sex.

Oder Sex als Symbol für Bestätigung, Wärme, Anerkennung, Männlichkeitsbeweis. Theo kriegt das nicht hin. Das ist zerstörerisch, wie er damit umgeht. Ich kenne auch das Gefühl der Einsamkeit in der Masse. Oft würde man in der Disko einem Mädchen gern sagen: „Du, ich würde gern Sex mit Dir haben.“ Aber wer traut sich das schon? Wer es schafft, die Schwelle der Kommunikation zu Frauen zu überwinden, hat ja anscheinend ein bestimmtes Problem nicht.

Die Figur des Theo Stöhr macht eine physische Wandlung durch. Nach neun Jahren im Strafvollzug ist er viel trainierter.
Es ging darum zu zeigen, dass dieser Strafvollzug Menschen verändert. Man lernt in der Therapie, ein Körpergefühl aufzubauen, dazu gehören auch Kampfsportarten. Das ist ein Versuch, Aggression abzubauen. Als Theo aus dem Vollzug kommt, hat er sich körperlich verändert, also gehe ich davon aus, dass er sich auch sonst verändert habe. Man hofft, dass er es nicht mehr tut.

Die Therapie und der Kampfsport helfen ihm in den brenzligen Situationen nicht.
Hier taucht jetzt die Frage auf, sollte man es überhaupt probieren, kann man sich das gleich sparen? Aber was soll man sonst machen? Ich kann das nicht beantworten. Es kann auch der richtige Weg sein. Die Therapie mit dem Kampfsport ist ein legitimer Versuch, jemandem zu helfen, mit seinen Aggressionen umzugehen. Das ist das, was wir tun müssen. Was ist die Alternative? Was denn sonst? Diese Frage ist interessant und löst eine Debatte aus, die wichtig ist.