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Dinner for One – Mach’s nochmal, James!

Mach's nochmal, James!

| Roman Urbaner |

The Same Procedure as Every Year: Das Fernsehstück „Dinner for One“, die Gespenster der Vergangenheit und die „gute, alte Zeit“.

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An jedem Silvesterabend gehorchen die deutschsprachigen Fernsehanstalten bereitwillig dem kollektiven Wiederholungszwang und beglücken das Publikum mit dem TV-Stück Dinner for One. Seit über 30 Jahren gehören die Versuche des getreuen Butlers James, seiner Herrin eine Festtagsrunde vorzugaukeln, zur Jahreswende wie Sekt und Feuerwerk. Das Geburtstagsritual der alten Dame ist zum Kollektivritual avanciert, das mit der Verlässlichkeit des Korkenknallens um Mitternacht – „The same procedure as every year“ – für Kontinuität zu sorgen hat.

Als letztes Überbleibsel einer untergegangenen Ära hat Miss Sophie (May Warden) zu ihrem 90. Geburtstag geladen. Ihr Butler James (Freddie Frinton) umkreist zunehmend schwankend die Festtafel, stolpert ein ums andere Mal übers Tigerfell und müht sich redlich ab, die im Lauf der Zeit abhanden gekommene Tischgesellschaft stilgerecht zu ersetzen. Das Geplänkel zwischen Miss Sophie und ihren imaginären Gästen wird dabei mit betörender „Britishness“ abgewickelt. Obwohl hierzulande der Einakter als Prachtexemplar des britischen Humors gehandelt wird, blieb sein Aufstieg zu kultischen Ehren zunächst dem bundesdeutschen TV-Publikum vorbehalten; in seinem Ursprungsland England, wo die Varieténummer in den 20er Jahren entstanden sein soll, ist das Fernsehstück hingegen nach wie vor völlig unbekannt. Die Sendung, die alljährlich über unsere Bildschirme flimmert, wurde bezeichnenderweise gar nicht auf einer britischen Bühne aufgezeichnet, sondern 1963 als Produktion des NDR in Hamburg. Seinen Stammplatz am letzten Tag des Jahres bekam das Stück dann 1972, und mittlerweile steuert man allein in Deutschland bereits auf die 300. Ausstrahlung zu. Auch in diesem Jahr wird der sturzbesoffene Tollpatsch wieder mehr als zwanzig Mal über die deutschen und österreichischen Bildschirme torkeln: Das Vergnügen an der Slapstickparodie eines Rituals ist also selbst zur rituellen Handlung geworden.

Inzwischen hat man den 18-Minuten-Sketch in alle Welt verkauft. Von Grönland bis Kapstadt (und neuerdings auch in China) amüsiert sich das TV-Publikum über das seltsame Dinner – nirgendwo aber wird der Slapsticknummer solche Verehrung zuteil wie in Deutschland. Erst zwei Jahre ist es her, dass die deutsche Einschaltquote mit 15,6 Millionen Zusehern in neue Rekordhöhen vorstieß; und eine Vielzahl von Sammlerstücken, CDs und Fan-Literatur stellt eindringlich den Stellenwert des kurzen Fernsehsketchs unter Beweis. Die Edition Nautilus etwa hat sich in ihrem Verlagsprogramm schon seit Jahren auf diverse Dinner for One-Artikel spezialisiert, zuletzt auch in Form von Hörbüchern in diversen Dialektvariationen von Sächsisch (off säggssch) bis Plattdeutsch (op platt). Und wenn James nebenbei auch noch auf unzähligen Laienbühnen das berühmte Vier-Gänge-Menü serviert, zeigt dies umso deutlicher, wie tief sich der Silvestersketch ins kulturelle Allgemeingut eingeschrieben hat.

Trinkfeste Phantome

Mit dem Stück scheinen nationale Tiefenschichten ins Schwingen zu geraten. Denn das Geheimnis des beispiellosen Erfolgs steckt in einer Komik, deren unausgesprochener Kern im belasteten Verhältnis zur eigenen Geschichte zu suchen ist. Dass das englischsprachige Stück ohne Übersetzung und Untertitel auskommt, ist demnach kein Zufall, sondern ermöglicht erst, im Kostüm des britischen Empires, das Aufgreifen der eigenen schmerzlich verdrängten Vergangenheit. „Dinner for One ist in Deutschland so populär“, erläuterte vor einigen Jahren der Kulturwissenschaftler Rainer Stollmann, „weil es ein wirklich schwieriges Problem, eine sehr kitzlige Stelle in der Seele der Deutschen berührt.“ Und in der Tat führt uns der Sketch die hartnäckige Präsenz einer Geschichte vor Augen, die nicht und nicht vergehen will und sich stattdessen in Gestalt trinkfester Phantome um den Tisch versammelt. Beim Mahl der „Schon-längst-Gestorbenen“ und „Noch-nicht-ganz-Gestorbenen“ überlappen sich unentwirrbar Vergangenes und Gegenwart. „Wer lebt da eigentlich noch, und wer ist schon tot?“, fragt Stollmann und legt den empfindlichen deutschen Nerv unter dem „bewusstlosen Lachen“ bloß: Es genüge schon, sich vorzustellen, statt Miss Sophie habe die greise Leni Riefenstahl an der Tafel Platz genommen, um herzhaft mit Hitler, Heß und Göring anstoßen. Warum aber kommt der Aufmarsch der Untoten dann so gar nicht als schauerlicher Spuk daher, sondern mit schrulligem Charme? Dem Tonfall des heiteren Fernsehstücks haftet nichts Gespenstisches an; nichts lässt erahnen, dass sich hier das alte Gemisch aus Schuld, Scham und Trauer seinen Weg an die Oberfläche bahnt.

Über diese Lesart muss sich also eine zweite Bedeutungsschicht gebreitet haben. Der Sketch gestattet es nämlich, sich die Geschichte der eigenen vergangenen imperialen Größe endlich, wenn auch in ironischer Gewandung, wieder als Identitätsprojektion zu Eigen zu machen. Über die Auslagerung ins Fremde kann man sich nun erlauben, was man sich in Deutschland lange verkneifen musste: sich auf die vorgeblich „gute, alte Zeit“ zu besinnen. Und tatsächlich legt das Stück ja einige Spuren, die das deutsche Publikum sanft zu einer spezifisch deutschen Lesart geleiten: Zum einen schickt der NDR dem Sketch ein unbeholfenes deutsches Vorwort voraus; zum anderen tut sich Admiral von Schneider inmitten der typisch englischen Sozialcharaktere durch die Angewohnheit hervor, in gut preußischer Manier die Hacken zusammenzuknallen. Kurz: Der Umweg ins viktorianische England ermöglicht es dem deutschen Publikum, unbeschwert an die versunkene wilhelminische Ära anzuknüpfen.

Kakanien und anderswo

Nicht viel anders verhält es sich in Österreich, wo der Einakter seinen Ehrenplatz im Silvesterprogramm des ORF mit einiger Verspätung erstmals 1981 eingenommen und – mit kurzen Unterbrechungen und respektablen Einschaltquoten – bis heute behauptet hat. Der forcierte englische Charakter des Zweipersonenstücks gehorcht hier allerdings weniger dem Prinzip der Projektion, sondern erweist sich vor allem als schelmische Verdoppelung der eigenen Geschichtsversessenheit. Nicht so sehr der Drang zur Auslagerung, sondern zuallererst die Lust an der Spiegelung steht, in grotesker Gemengelage, hinter der österreichischen Erfolgsgeschichte. Denn fürs hiesige Publikum spiegelt sich in der viktorianischen Tischgesellschaft die eigene ironisch gebrochene Habsburger-Nostalgie wider. Der Hang zur überlebten Tradition, von der man nicht ganz lassen kann, ist einem hierzulande ja nicht fremd. Und von untergegangenen Reichen und verblichener Größe kann man in der kleinen Alpenrepublik schließlich sein ganz eigenes Lied singen: Das Lachen über Miss Sophies anachronistisches Geburtstagsritual knüpft also – als doppelbödige Verschränkung von Nostalgie und Parodie – an jene ironische Distanz an, von der aus man in Österreich so gerne (und nicht ohne Stolz) auf sein verflossenes Kakanien blickt.

Natürlich funktioniert Dinner for One als großartig getimter Sketch auch anderswo. Er beherrscht die Slapstick-Ökonomie von Wiederholung und Variation in seltener Perfektion, bis hin zum Schlussakkord der etwas anzüglichen Pointe, in der sich das eigenwillige Paar von „Herrin“ und „Knecht“, unter strikter Wahrung der Standesunterschiede, ins Schlafgemach zurückzieht. Es verwundert deshalb auch nicht, dass der TV-Erfolg nach einiger Zeit auch auf andere Länder überschwappte und sich inzwischen auch dort als Teil des Silvesterzeremoniells etablieren konnte. Doch als man das Fernsehstück – im Windschatten seiner deutschen Karriere – allmählich auch in Skandinavien und der Schweiz für sich zu entdecken begann, galt die Sendung in Deutschland schon längst als Fixbestandteil der Jahreswende. Es gibt sogar noch eine zweite, in Nuancen abweichende Fassung, die das Schweizer Fernsehen ebenfalls 1963 aufgezeichnet hat. Es mussten jedoch noch viele Schweizer Silvester verstreichen, bis man Dinner for One Ende 1989 endlich auch dort ins Pflichtprogramm zum Jahreswechsel aufnahm.

Das Stück vermag aber jeweils auch länderspezifische Punkte zu streifen: Das ungebremste Trinkverhalten des bedauernswerten Butlers dürfte gerade angesichts des puritanisch gebremsten Umgangs mit Alkohol, den die skandinavischen Länder pflegen, fürs dortige TV-Publikum seinen besonderen Reiz entfalten. (In Schweden war die Sendung wegen der in ihr zur Schau gestellten Trinkfreudigkeit ja tatsächlich mehrere Jahre auf Eis gelegt worden.) Und der Umstand, dass gerade die feine englische Gesellschaft durch den Kakao gezogen wird, mag beim kleinen Nachbarn Norwegen auf amüsierte Genugtuung stoßen. Überall aber scheint man gleichermaßen den universellen Kern des Sketchs zu verstehen: Die „mumifizierte Komik“ des Stücks, schrieb Franz Schuh vor Jahren, sei nämlich „von der Panik diktiert, dass irgend etwas anders werden könnte“.