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Freuds verschwundene Nachbarn

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Die Berggasse 19, jenes Haus, in dem Sigmund Freud 47 Jahre lang wohnte, wird zum Ausgangspunkt für eine Spurensuche, die den Lebenswegen der ehemaligen Bewohner folgt.

Sigmund Freud verließ Wien im Jahr 1938 in Richtung England. Seine früheren Nachbarn, die Bewohner des Hauses in der Berggasse, mussten in den Folgejahren im Zuge der„Arisierung“ ihre Wohnungen räumen. Vor ihrer Deportation steckte man sie in so genannte Sammelwohnungen, die sie oft mehrere Male wechseln mussten, womit auch eine Zerschlagung sozialer Strukturen vollzogen wurde. Vor diesem Hintergrund folgt Regisseur Kurt Mayer den Wegen dieser Bewohner und suchte mit der Kamera deren ehemalige Wohnungen auf. Die Ereignisse von damals werden aber nicht nur über Erinnerungen von Zeitzeugen aufgerollt, sondern vor allem über die Beschäftigung mit der Gegenwart zum Thema gemacht.

Ohne Ankündigung eines genauen Drehtermins konfrontiert Mayer die jetzigen Bewohner mit der Geschichte ihrer Wohnungen. Er läutet an den Türen und reißt die Leute bei seinen Besuchen aus einer beliebigen Alltagssituation. Nicht immer ist das Team willkommen, öfters schließt man die Tür vor ihrer Nase wieder zu. „Ich kann dazu nichts sagen, fragen sie jemand anderen“, so ein Vorwand. „Es war schon schwierig, überhaupt in ein Haus zu gelangen. Oft mussten wir warten, bis zufällig jemand kam. Dann schnell den Fuß in die Tür und bei den Wohnungen hoffen, mehr als einen Satz lang angehört zu werden“, so Mayer über die Dreharbeiten. Einmal in den Wohnungen drinnen, schnüffelt die Kamera dann förmlich nach den Spuren eines sich hier zugetragenen Lebens. Die Handkamera bewegt sich durch Schlafzimmer, Kleiderschränke und Badezimmer, gleitet an Bücherregalen, Nachtkästen und Bildern entlang und ist dabei ganz nah an den Gegenständen. Um vielleicht unter der Fassade der Gegenwart einen Hauch des Vergangenen zu erhaschen.

In den Gesprächen mit den Bewohnern wird der Film dann zu einem Musterbeispiel österreichischer Vergangenheitsbewältigung. Was haben Sie von den Zwangsdelogierungen gewusst? Wann haben Sie erfahren, was in den Konzentrationslagern passiert ist? Fragen wie diese öffnen einmal mehr die Bühne für den spezifisch-österreichischen Umgang mit der NS-Vergangenheit.

Mit Sigmund Freud selbst hat die Dokumentation Mayers nur wenig zu tun. Einzig Sophie Freud, seine Enkelin, stellt mit ihrem Besuch in der Berggasse die unmittelbare Verbindung her. Ansonsten nutzt der Film sehr gelungen und eigenwillig das berühmte Wohnhaus, um ein unrühmliches Kapitel der Judenvertreibung in Österreich aufzuarbeiten. Ernst Pohn