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Ulrich Seidl Film Import/Export

Import / Export

Von wilden Hunden und einsamen Mädchen

| Otto Reiter |

Beobachtungen und Notizen zu den Dreharbeiten von Ulrich Seidls lang erwartetem Film „Import/Export“, der bei den Filmfestspielen in Cannes seine Uraufführung erlebt.

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29. März 2006

Altersheim Lainz, das sich seit nicht allzu langer Zeit offiziell Geriatriezentrum am Wienerwald nennt. Ein Jahr lang hat sich Ulrich Seidl um eine Drehgenehmigung bemüht, endlich hat er sie, aber unter Auflagen: kein Aufsehen, keine Journalisten. Nichts deutet von außen auf irgendwelche Dreharbeiten hin, auch nicht im 3. Stock. Spitalsalltag. Doch zehn Schritte weiter, im Aufenthaltsraum, umgibt mich plötzlich eine bizarre Szenerie. Alte, ernste, traurige Menschen geschmückt mit bunten Pappnasen, Hüten, Perücken. Ulrich Seidl filmt ein Faschingsfest mit winziger Crew, behutsam, konzentriert, ein mittelalterlicher Entertainer intoniert „Glücklich ist, wer vergisst“, Fröhlichkeit kommt nicht wirklich auf bei den Menschen, spüren sie doch schon die Hand des Todes auf ihrer Schulter. Aber sie nehmen es dankbar als willkommene Abwechslung an, im Gegensatz zu einem Besucher, der sich bei einer Krankenschwester beschwert: „Könnan die net in an Studio drahn?“

Nein. Ulrich Seidl liebt und benötigt unbedingt die Originalschauplätze. Ebenso wie die Balance zwischen Laien und Schauspielern, bis diese ununterscheidbar sind, aber das erfordert Arbeit, die selten ist. Maria Hofstätter (in Hundstage als faszinierende Autostopperin unterwegs) spielt eine Krankenschwester, dafür hat sie sich vorher tage- und nächtelang auf der Station eingearbeitet, Windeln gewechselt, gewaschen, gefüttert, gepflegt, bis sie nur mehr als Schwester Maria von allen wahrgenommen wurde. Auch mit der Hauptdarstellerin Ekateryna Rak aus der Ukraine, von allen Katja genannt, versteht sie sich blendend, so gut, dass Katja bei einer Streitszene ein Büschel Haare lassen musste. Sie spielt Olga, die in Österreich entgegen ihrer Qualifikation als Putzfrau arbeitet. Die Kamera wird abgebaut, Drehschluss. Eine Frau mit schönen weißen langen Haaren findet ihr Zimmer nicht mehr, eine andere beginnt, sich nackt auszuziehen. Der Alltag hat sie wieder.

Die Lainz-Szene ist Teil des Import-Erzählstranges. Eine junge Ukrainerin kommt nach Österreich und schlägt sich mit diversen Arbeiten durch. Gegenläufig, ohne jede Berührung, wird die Export-Geschichte des jungen Teilzeitarbeitslosen Paul erzählt, den es quer durch die Slowakei bis in die Ukraine verschlägt.

Viel hat sich an der ursprünglich eingereichten Drehbuchfassung (31 Seiten, ohne Dialoge, aber kompakt, grandios) seit dem März 2004 verändert. Lange Recherchereisen machten aus Rumänien die Ukraine, weil sie noch weniger von westlichen Einflüssen korrumpiert ist. Und viele Szenen wurden gestrichen oder neu erfunden auf Grund der Darstellerinnen und Darsteller, die in langwierigen Prozessen, ein Jahr lang, aus 1.200 Kandidaten gecastet bzw. auf der Straße, in Schulen, Krankenhäusern, Nachtlokalen, Arbeitsämtern usw. ausgewählt wurden.

Ekateryna Rak kam extra aus der Nordukraine zum Casting nach Kiew und bekam die Rolle der Olga. Sie hatte als Krankenschwester gearbeitet, auch ein wenig halbprofessionell Theater gespielt und war noch nie im Ausland gewesen. Als sie mir nach vielen Tagen Drehzeit in einem ehemaligen Kaffeehaus, das jetzt als türkische Disco fungiert, am Währinger Gürtel gegenübersitzt, beeindruckt vor allem ihr gutes, für die Dreharbeiten gelerntes Deutsch, glücklich scheint sie nicht. „Dieser Film ist die härteste Schule meines Lebens.“ Sie erzählt von ihrer einsamen Mutter, dem abwesenden Vater und ihrer 16-jährigen Schwester, die nichts mehr lernen will, von eigenen Ängsten und Einsamkeiten in Wien. Fotos trägt sie bei sich, die sie als Prinzessin in einem ukrainischen Theatermärchen zeigen. Dass die Mitarbeit an einem Film von Ulrich Seidl auch eine große Chance für sie ist, sieht sie schon, allerdings: „Die Sexszenen waren das Schlimmste.“ Dabei handelt es sich gar nicht um Sexszenen wie Catherine Breillat, Michael Winterbottom oder Patrice Chereau sie drehen, sondern um keimfreie Bilder aus einem Webcam-Studio, die an einem Originalschauplatz im tschechischen Pilsen gedreht wurden. Ulrich Seidl: „Ich habe ihr viele Male vor Drehbeginn ausführlich erzählt, welche Szenen im Film vorkommen sollen, da war nichts Überraschendes für sie, leichter wäre es für mich gewesen, wenn sie sich manchmal selbst mehr eingebracht hätte.“

Die im Film engste Freundin von Olga, Natascha, konnte sich jedes Casting ersparen. Maria Hofstätter schätzte sie als Putzfrau und empfahl sie für die Räumlichkeiten der Seidl-Produktionsfirma. Wo sie wiederum sofort als Schauspielerin engagiert wurde, weil ihre persönliche Geschichte als Moldawierin Natalja Epuraneu, wie sie im wirklichen Leben heißt, eigentlich die fiktionale Geschichte von Olga ist.

Auch andere hatten Glück, wie Michael Thomas, 45, seit fast zwanzig Jahren als „Old Shatterhand“ über sämtliche Freiluftbühnen Süddeutschlands und Österreichs reitend, der schon in der engeren Auswahl für die Wickerl-Rolle in Hundstage (mit einer brennenden Kerze im Arsch die Bundeshymne singen) war, dann aber doch nicht genommen wurde. Plötzlich stand er wieder in der Tür, Seidl nahm ihn und den Hauptdarsteller des Paul, Paul Hofmann, 25, an der Hand und ließ sie im Park vor dem Produktionsbüro im Wiener 9. Bezirk mehrere Szenen improvisieren u.a., dass der eine dem anderen Geld schuldet. Das klappte so gut, dass er sofort engagiert war.

Daraufhin folgten noch vor Drehbeginn lange Fahrten von Ulrich Seidl, Michael Thomas und Paul Hofmann in die Slowakei und in die Ukraine. Motive suchen, Stimmungen ausloten, die Gegenden und möglichen Drehorte kennen lernen.

Ende Februar 2007

Wieder und wieder wird der nun wirklich allerletzte Dreh in der Ostslowakei wegen zu schönen Wetters verschoben. Wie schon vor mehr als zehn Jahren die wunderbare Paula Hutterova bei den Dreharbeiten zu Mit Verlust ist zu rechnen anmerkte: „Der Ulrich mags nicht, wenns schön ist, bei dem solls immer nur schneien, regnen oder finster sein“. Aber dann doch. Die letzten Wintertage. Und die kamen heftig. Schneesturm, Eisregen, für die 550 Kilometer von Wien nach Kosice brauchten wir 14 Stunden. Nächster Tag: sieben Uhr früh Drehbeginn. In Lunik Devet, wie die Einheimischen abschätzig sagen, weil sie dort nie hingehen würden. Es gibt zehn Lunik-Bezirke in Kosice, aber Devet, der neunte, ist das allerletzte, zwischen Autobahnen und Supermärkten isoliert, das „Zigeunerghetto“.

Kein Weißer traut sich dort hin, nur die Polizei manchmal und die Angestellten vom slowakischen Strom- oder Gaswerk, um Zulieferungen einzustellen. Gedreht werden nur zwei Hauptszenen – immer wieder. Paul und sein Stiefvater (Michael Thomas) verirren sich mit ihrem Kleinbus in die Gegend, Paul will beweisen, dass er keine Angst hat, steigt aus und macht dann einige nicht ganz gewaltfreie Erfahrungen. Von außen sehen die Plattenbauten aus wie Grozny. Tschetschenien. Zertrümmerte Stiegenhausfenster oder klaffende Löcher wie Wunden in Beton. Müll überall. Misstrauische Menschen, fröhliche Kinder. Für sie sind die fremdsprachigen Weißen mit der Kamera ein großer, außergewöhnlicher Spaß. Lange brauche ich, um zu verstehen, warum sie immer wissen wollen, ob ich Belgier bin. Weil viele auch Flämisch sprechen. Dort waren sie schon, weil irgendjemand das Gerücht verbreitet hatte, Belgier liebten Zigeuner, aber dem war nicht so, also wurde sie wieder nach Hause in ihr geliebtes Lunik Devet geschickt. Doch haben sie durchs Satellitenfernsehen mittlerweile viele andere Wörter und ein gewisses Weltverständnis gelernt, deshalb steht für sie auch außer Frage, dass Ulrich Seidl nicht aus einem fremden Land kommt, um hier bei ihnen nur eine simple TV-Dokumentation zu drehen, sondern etwas Essenzielles, Bedeutendes, Lustvolles: einen Pornofilm.

Kaum freue ich mich über Nicht-Fernsehen und betone immer wieder Kinofilm, Kinofilm, da kommt schon die vielstimmige johlende Antwort: Ja, Ficken, Ficken, nice lady, cocksucker, spritz schnell, lecker meisje lecken, motherfucker usw., untermalt von allerlei nur erdenklichen obszönen Gesten. Verblüffend, worüber sich Kinder so alles freuen können, wenn sie ein Kamerateam sehen.

Währenddessen dreht Ulrich Seidl keinen Pornofilm, sondern extrem konzentriert in einer extrem desolaten Wohnung an der Einschüchterung von Paul durch zwei Möchtegern-Kleinkriminelle. Seidl erscheint mir plötzlich als Anarchist mit Hang zu großer Ordnungsliebe, aber vielleicht ist es auch nur pragmatischer Arbeitskontrollzwang. So leise und zurückhaltend er sonst immer ist, kaum droht eine kurze Drehpause in eine Party auszuarten, kann er schneidend laut werden.

Ich rauche mit Paul im mangels Fenstern windigen Stiegenhaus eine Zigarette nach der anderen, weil er darf laut überanstrengtem Aufnahmeleiter erst „nach Ansage Ulrich“ aufs Set, ich überhaupt nicht. Paul träumt von einer HipHop-Zukunft. Die Arbeit an und mit dem Film hätte ihn in gewissem Sinn gerettet, meint er. Schnee fällt, und die Nachmittagsdämmerung ist wie ein Vorhang. Zwei Kinder prügeln sich um ein Fahrrad ohne Hinterrad, ein älteres spielt mit einem abgebrochenen Stock und einer Cola-Dose imaginäres Eishockey. So schön, hart und einsam kann Lunik Devet im Winter sein.

Vor Jahren besuchte ich Ulrich Seidl an seinem Schneidetisch, der Boden war übersät mit bunten Kärtchen, die Motive, Gedankenbrücken, Szenenfolgen, Hilferufe und Hilfezeichen signalisierten. Das System hat sich minimalisiert. Schon bei Hundstage arbeitete er parallel und überspielte eine Acht-Stunden-Rohschnittversion auf den digitalen AVID-Schnittcomputer. Bereits im April 2005, nach dem ersten Winterdrehblock von Import/Export, hat er mit Christof Schertenleib die Schnittarbeit an dem auf Super16 gedrehten Material begonnen. Aber die technische Entwicklung ist ein zweischneidiges Schwert: „Es ist ein Fortschritt und auch keiner. Ich schneide ja sehr wenig innerhalb einer Szene, viel wichtiger ist emotional und assoziativ den Bau, die stimmige Dramaturgie des Filmes zu finden. Manuell ist man schneller, man kann viele Versionen speichern, aber menschlich ist vieles gar nicht nützbar was die Maschine kann.“

Aus 80 Stunden Material ist jetzt eine ultimative Version von 2 Stunden 15 entstanden. Die erste Fassung war 5 Stunden 30 lang, aber später soll es noch einmal eine Variante von 3 Stunden 30 geben. Für Liebhaber. Viele Szenen aus Lainz fielen leider dem Schneidetisch zum Opfer, die Sequenz mit Olga als Kindermädchen in einer großbürgerlichen Familie (immerhin 10 Drehtage) wurde von 50 Minuten auf 6 reduziert, und die Vaterfigur existiert nicht mehr. Die Szenen, in denen Paul und sein Stiefvater in der Ukraine hinter Mädchen her sind, wären schon fast wieder ein eigener Film. Auch die grandiose Bügelszene (biederer österreichischer Chauvinist bringt Olga das Bügeln bei) musste fallen. Aber Beschränkung bringt auch Dichte, Intensität, Schärfe.

Aus Enttäuschung über die Erfahrungen mit seinen bisherigen Produzenten hat Ulrich Seidl seinen neuen Film erstmals selbst produziert. Ob ihm das jetzt oder bald Leid tun wird? „Ganz im Gegenteil. Das kann ich gar nicht bereuen. Bei allen Entscheidungen oder Streitfällen hat immer der Regisseur in mir gewonnen, auch weil der Produzent in mir klug genug ist, zu verstehen, dass alles, was den Film besser macht, natürlich uns beiden hilft. 2003 habe ich die Seidl-Film gegründet, das sind jetzt dreieinhalb Jahre bei laufenden Kosten ohne irgendwelche Einnahmen, aber die alleinige Verantwortung ist letztlich ein Gewinn. Ich erspare mir viele unnötige Diskussionen und besitze erstmals auch alle Rechte an meiner Arbeit. Jetzt kann ich nur mehr hoffen, dass der Film erfolgreich wird und sich auch ein wenig verkaufen lässt, damit ich nicht mit meinen Schulden übrig bleibe.“

In der internationalen Filmwelt hat Ulrich Seidl einen Status und einen Bekanntheitsgrad wie jüngst seit ihrem Nobelpreis Elfriede Jelinek im Bereich der Literatur, er muss nicht mehr um Anerkennung kämpfen, aber genügt, schmeichelt oder hilft ihm das? Als Seidl 2001 den Großen Preis der Jury in Venedig für Hundstage entgegennahm, sagte er, dies sei eine Verpflichtung, noch radikalere Filme zu machen: „Import/Export ist ganz anders als Hundstage – ob radikaler, das sollen andere beurteilen. Auf jeden Fall eine Weiterentwicklung. Radikal sind sicher die Blickwinkel auf jene Bereiche, die sehr oft verdrängt und tabuisiert werden. Ich persönlich bin nie zufrieden, und jeder meiner Filme ist für mich ja auch nie fertig, aber irgendwann muss man ja aufhören.“

Otto Reiter
Geboren 1957 in Ost-Berlin, mit drei Jahren im Arm seiner Wiener Mutter nach Öster-reich geflüchtet, Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft, seit 1981 Filmjournalist für in- und ausländische Medien, Kurator und Moderator für diverse Festivals: Viennale (Organisator der Sonderschau „Abschied von Jugoslawien“, 1993), Berlinale, Rotterdam, Karlovy Vary, Göteborg, Sao Paulo, Österreichische Filmtage, Max-Ophüls Saarbrücken, sowie Crossing Europe in Linz und Festival des Neuen Heimatfilms in Freistadt.

 

Buch über Ulrich Seidl
Im Herbst 2007, zum Kinostart von Import/Export, erscheint bei Sonderzahl in Wien das erste umfassende Buch über Ulrich Seidl; Autor ist der Kulturchef des Wochenmagazins profil, Stefan Grissemann: „Es ist keine Anthologie, sondern eine kritische Durchleuchtung des Gesamtwerks (mit biografischen Anteilen und durchlaufenden Seidl-Wortlautproben) unter besonderer Berücksichtigung von Import/Export. Der Titel steht noch nicht fest.“