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„In der Erweiterung liegt die Möglichkeit zur Veränderung” – Valie Export im Gespräch

„In der Erweiterung liegt die Möglichkeit zur Veränderung" – Valie Export im Gespräch

| Brigitta Burger-Utzer :: Sylvia Szely |

Das Filmmuseum zeigt eine umfassende Retrospektive der Film- und Videoarbeiten von VALIE EXPORT. Ein Gespräch mit der international erfolgreichen Künstlerin über ihre frühen Jahre in Linz, den Beginn des Expanded Cinema und den Körper als Material.

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In einem Aufsatz mit dem Titel „Expanded Cinema as Expanded Reality“1 beginnst du mit einer Art künstlerischer Autobiografie; du schreibst, dass du dich in den Studentenjahren besonders für Futurismus, Kubismus und Konstruktivismus interessiert hast. Wann und wie bist du mit „Kunst“ in Kontakt gekommen?
In der Nachkriegszeit wurde die Bibliothek meiner Eltern wieder in die Wohnung integriert, da bin ich erstmals bewusst mit Kunst – sei es mit Bildender Kunst oder Literatur – in Kontakt gekommen. Ich habe mit zirka zehn oder zwölf Jahren den Surrealismus entdeckt, der vor allem in seiner Bildhaftigkeit sehr interessant für mich war: Im Surrealismus gab es keine normalen Bilder, im Sinne von Abbildungen, zumindest habe ich das damals so empfunden. Später hat mich Magritte besonders angesprochen. Daneben haben wir offenbar auch konstruktivistische und dadaistische Bücher in der Bibliothek gehabt – oder ich habe diese Bücher in anderen Bibliotheken gesehen.

War das eine speziell große Bibliothek?
Das war vom Umfang her eine normale Bibliothek, aber sie bestand eben aus  unterschiedlichen, interessanten Büchern. Wir hatten auch einen Anker-Bausteinkasten, wo man mit einzelnen Bauteilen Gebäude nach historischen Vorlagen nachbauen konnte, wie zum Beispiel den Triumphbogen … So bekam ich auch einen Bezug zur Geschichte und vor allem zur Architekturgeschichte. Und ab meinem zwölften Lebensjahr war ich viel unterwegs, meine älteste Schwester hat im Ausland gelebt, und wir sind, wenn wir sie besucht haben, oft in Museen gegangen und haben Kirchen und historische Gebäude besichtigt, z.B. in Venedig und in München … Ich habe auch sehr gerne gezeichnet, schon in der Kriegszeit; damals gab es allerdings meist kein Papier, deshalb habe ich auf den leeren Seiten in Büchern gezeichnet, besonders auf den letzten Seiten. Ich habe später überlegt, zu malen, aber das ist für mich erledigt. Was ich malen möchte, ist schon gemalt, das könnte ich nur wiederholen. Außerdem war es mir zu wenig, nur auf der Fläche zu arbeiten, nur zweidimensional. Mich hat die dritte und vierte Dimension interessiert.

Du hast dann aber in Linz die Textilfachschule besucht. Wie ist es dazu gekommen?
Ich wollte damals schon Kunst machen, meine Mutter hat auch immer gefördert, was ich machen wollte. Aber in die Kunstschule zu gehen, war aus verschiedenen Gründen nicht möglich, deshalb bin ich in die Kunstgewerbeschule gegangen und habe mich für Textil entschieden, weil ich das Handwerkliche gerne hatte, das kam mir auch gelegen. In dieser Zeit habe ich angefangen, meine ersten fotografischen Selbstporträts zu machen. Gemeinsam mit einem Schulfreund habe ich das dann ausgebreitet: wir haben ihn als Mädchen und mich als Buben fotografiert, das waren sozusagen schon Vorläufer zur Transfer Identities-Serie.2 Kurzum, ich habe begonnen, mir zu überlegen, wie man mit dem Fotoapparat „umgehen“ kann.

Wann bist du eigentlich nach Wien gegangen und warum?
Ich habe geheiratet und war ein Jahr verheiratet. Nach der Scheidung wollte ich weg von Linz, das war 1960 … Meine Situation war schwierig: Ich war geschieden und hatte ein Kind; trotzdem wollte ich weiter studieren und meine Ausbildung auch abschließen. Das war aber nur mit der finanziellen – und ideellen – Unterstützung meiner Familie möglich, und ich habe nebenbei auch gearbeitet. So bin ich in Wien gelandet und habe hier die Höhere Technische Lehranstalt für Textilindustrie mit dem Diplom in Design abgeschlossen. Zu der Zeit war mir aber schon relativ klar, dass ich nicht Modezeichnerin oder Musterzeichnerin werden wollte, obwohl mich Design sehr interessiert hat und es mir noch manchmal Leid getan hat, dass ich das nicht studiert habe. Design und Architektur interessieren mich bis heute.

Mitte der 60er Jahre hast du dann den Namen VALIE EXPORT angenommen; welche Bedeutungen hast du ihm gegeben?
Das war 1967, ich habe mich zu der Zeit mit meiner Identität auseinander gesetzt. Identität ist – wenn auch nicht nur – durch den Namen gegeben. Ich hatte zuerst den Namen meines Vaters, danach den Namen meines geschiedenen Mannes. Ich wollte aber einen eigenen Namen haben, den ich mir selbst aussuche, und den ich auch als künstlerisches Konzept verwenden kann. Valie war sozusagen mein Nickname. Und auf EXPORT bin ich gekommen, weil ich auf der Suche war nach einem Namen, der ein Markenzeichen sein könnte oder der etwas Umfassenderes bezeichnet. Ich habe EXPORT gewählt, weil ich meine Ideen, Gedanken exportieren wollte, und weil es auch gut zu merken ist. Nachdem klar war für mich, dass EXPORT mein Künstlername ist, habe ich nach einem Objekt gesucht, das meinen Künstlernamen deutlich visualisiert. So bin ich auf die Packung der Zigarettenmarke Smart Export gekommen, die haben damals viele geraucht. Da habe ich mir gedacht, das ist einfach das Naheliegendste. So viele Massenartikel standen nicht zur Auswahl, die ich hätte benutzen wollen. Das Bild mit der Erdkugel auf der Packung habe ich mit meinem Gesicht überdeckt – das Bild der Erdkugel ist noch immer darunter – und um dieses runde Bild herum steht „semper et ubique, immer und überall“, und „Made in Austria“ steht ebenfalls auf der Packung, was ja auch stimmt, nicht?

Im Rahmen des Projekts der Künstler- und Künstlerinnen-Porträts für das Fernsehen (1987) hast du ein Selbstporträt vorgeschlagen. Wie hätte das ausgesehen?
Es ist mir um die Frage gegangen, wie man Identität erzeugen kann, ob sich Identität selbst erzeugen kann, und wenn ja, wie sie das tut. Wie gehe ich mit meiner eigenen Identität um bzw. habe ich überhaupt eine Identität? Wenn ich sage „eigene Identität“: ist Identität dann ein Eigentum? – Natürlich habe ich eine Identität, jeder Mensch hat eine Identität, auch wenn es vielleicht eine Non-Identität ist, oder er hat sogar mehrere; aber welche Verschiebungen finden statt, welche Auseinandersetzungen? Es wäre ein kurzes Porträt geworden, rund um den Begriff der Identität und um den Begriff der Verdoppelung. Denn ich habe mich in vielen meiner Arbeiten mit Verdoppelung beschäftigt, wie z.B. die doppelte Leinwand in Splitscreen Solipsismus (1968); oder der Begriff des Doppelgängers in den Unsichtbaren Gegnern (1976) oder die Verdoppelungen des Gleichen in unterschiedlichen Medien, wie Fotografie, Film, Video.

Sprichst du hier auch die Verdoppelung im Sinne von Realität und Repräsentation an? Das ist ja auch oft ein Thema bei dir: ein Foto und darüber der „reale Körper“.
Richtig, Abbild und Wirklichkeit oder verschiedene Realitäten oder die mediale Realität – das interessiert mich natürlich. Ich hätte dieses Selbstporträt gesehen wie ein filmisches Tagebuch: Was entsteht, wenn ich über mich selbst nachdenke? Wobei es mir nicht darum gegangen wäre, dass man mich in irgendeiner Art und Weise erkennt oder kennen lernt. Ich habe ja immer sehr viele Selbstporträts gemacht, ob mittels Zeichnung oder im Film oder in der Fotografie. Es wäre darum gegangen, wie ich mich sehe – aber nicht im Sinne einer Selbstdarstellung.

Zurück zur Chronologie: Nach der Schule war dir klar, dass du künstlerisch arbeiten willst?
Mir war klar, dass ich das Studium nicht umsetzen, aber auch nicht etwas ganz Anderes machen würde, sondern dass ich frei arbeiten will. Ich bewegte mich schon in der Künstlerszene, kannte alle aus dem Café Hawelka oder aus der Adebar …

Du meinst die Aktionisten oder die Mitglieder der Wiener Gruppe?
Ja, die habe ich alle gekannt. Aber ich habe selbst noch nicht Kunst gemacht.

Du warst sozusagen noch Konsumentin.
Genau, ich habe aber schon gezeichnet bzw. zu malen versucht, aber ich habe diese Arbeiten nicht öffentlich gezeigt. Einer der ersten Schritte war, einen Künstlernamen als Konzept zu kreieren und die Zigarettenpackung ist auch das erste Objekt meiner künstlerischen Laufbahn.

Und wie bist du zum Bewegtbild, also zum Expanded Cinema gekommen?
Natürlich hat mich das Medium Film interessiert, und ich habe relativ früh die Filme von Marcel Duchamp, Viking Eggeling und Hans Richter kennen gelernt – also die Klassiker der 1920er Jahre – im Ausland, aber auch in Wien, nämlich durch die ersten Filmpräsentationen von Peter Kubelka, die damals noch in einem Raum auf der TU am Karlsplatz stattgefunden haben, wenn ich mich richtig erinnere. Jedenfalls wollte ich künstlerische Arbeiten machen, die Bewegung zum Inhalt hatten, die nicht nur statisch waren, wie die Fotografie, und so bin ich zum bewegten Bild gekommen.

Aber es muss etwas gegeben haben wie eine erste Aktion. Das war wahrscheinlich Abstract Film Nr. 1?
Ja genau, 1968. Die Idee dazu hatte ich 1967. Ich muss aber erklärend sagen, dass mir die Ideen früher nichts genützt hätten, weil ich noch gar nicht die Möglichkeiten gehabt hätte aufzutreten. Mit solchen Projekten hätte ich als Künstlerin kaum einen Rahmen gefunden.

Dafür war die Zeit erst später reif?
1968 kamen die ersten Einladungen für Filmvorführungen. Und im Zuge meiner Reisen hat sich herauskristallisiert, dass es „expanded film arts“ auch schon woanders gibt: in London z.B. oder in Deutschland, Birgit und Wilhelm Hein. Als Peter Weibel und ich zusammen nach Schweden gefahren sind, da haben wir in einer Zeitschrift über Expanded Arts gelesen und da war für mich klar, dass Abstract Film Nr. 1 Expanded Cinema ist. Ich bin also ab 1968 von der so genannten Underground-Szene oder experimentellen Filmszene eingeladen worden, aber nicht immer dezidiert mit bestimmten Arbeiten.

Das muss für dich ein großer Sprung gewesen sein, du wurdest auch plötzlich sehr aktiv, ab 1968 explodiert es, zahlreiche Expanded Cinema Aktionen und gleichzeitig auch schon Filme.
Ja, 1968 hat sich die internationale Undergroundszene, vor allem in Europa – in New York hat alles ja schon viel früher begonnen – durchgesetzt, man konnte Filme und Expanded Cinema-Aktionen herzeigen, dafür hat es Einladungen gegeben. Das hat mich natürlich sehr motiviert.

Wobei deine frühen Aktionen alle im Ausland stattfanden.
In Österreich habe ich damals keine Einladungen bekommen, da war ich allerdings nicht die Einzige.

Nun, die Aktionisten sind durchaus spektakulär aufgetreten.
Aber in gänzlich anderen Kontexten. Meine Expanded Cinema-Aktionen kamen auch etwas später und haben sich in verschiedenen Punkten wesentlich vom Aktionismus unterschieden. Zum Beispiel bekam eine Reihe meiner Werke erst durch die Aktion des Publikums eine abgeschlossene Aussage, die Einbeziehung des Publikums war sehr wichtig. Diese Miteinbeziehung des Publikums hat es damals schon in den Happenings oder bei Fluxusereignissen gegeben, das ist auch ein wenig in der Luft gelegen.

Deine Arbeiten haben von Anfang an eine politische Dimension gehabt. Es ist nicht nur um film- bzw. medienimmanente Fragen gegangen, sondern auch um gesellschaftspolitische.
… und kulturpolitische.

Man könnte auch sagen, es ist um den Prozess gegangen, der Prozess war eigentlich das Kunstwerk. Das herkömmliche Verständnis von Kunst sollte hinterfragt und Grenzen überschritten werden. Dazu gehörte auch, wie du mal geschrieben hast, die Illusion Film in das Material Film quasi zurückzuverwandeln.3
Das Materialdenken war natürlich in vielen Kunstrichtungen stark vorhanden. In der ORF-Dokumentation Aktionskunst international (1989) habe ich versucht, diese Geschichte zusammenfassend darzustellen. Otto Mühl spricht da viel vom Material Körper, wie übrigens auch Allen Kaprov. Aber für mich war die These, dass das Kunstwerk nur dann fertig ist, wenn auch durch das Publikum etwas passiert, zentral.

Du hast immer wieder gesagt, dass du am Material der Kunst interessiert bist und auch den Körper als ein Material für deine künstlerische Ausdruckskraft siehst. Du hast manche Gedanken zur gesellschaftlichen Veränderung oder familiären Unterdrückung in relativ extreme Körper-Performances münden lassen. Wie hast du den Mut dazu aufgebracht?
Das ist keine Mutfrage. Wenn das Konzept stimmt und man die Arbeit realisieren will, dann tut man’s.

Du bist ja eine der wenigen, die neben den Körperarbeiten auch immer strukturell gearbeitet haben, sowohl im Film als auch in Texten und natürlich in der Fotografie. Haben sich diese Arbeitsbereiche gegenseitig beeinflusst?
Ich glaube schon, dass sich diese Bereiche und die verschiedenen Medien gegenseitig beeinflusst haben. In der konzeptuellen Fotografie ist es mir z.B. darum gegangen, Bewegung, nämlich auch filmische Bewegung, in die Fotografie zu bringen. Also etwa in der Fotoarbeit Schriftzug4, wo ich einen Eisenbahnwagen mit dem Wort „Schriftzug“ beschriftet habe. Wenn man den Zug in Fahrt gesehen hat, war es wie ein schneller Film, und jeder Stationsaufenthalt wurde zur Ausstellung …

Das ist ein weiterer Aspekt deiner Arbeit, dass du nicht immer nur im Kunstraum geblieben bist, sondern auch bewusst hinausgegangen bist. Ist es dir um die Erweiterung des Kunstraumes gegangen? Oder um die Begegnung mit Menschen, die mit einem Kunstereignis konfrontiert werden?
Letzteres weniger, das kommt mir ein wenig missionarisch vor. Mir ist es um die Erweiterung des Kunstraumes gegangen, wobei ich auch nicht jeden Raum in einen Kunstraum umwidmen will … Aber ich wollte eine Sensibilität schaffen dafür, dass es außerhalb des Kunstraumes noch ganz andere Räume gibt, in denen sich Kunst auch abspielen kann. Das ist sicherlich eine sehr theoretische Überlegung, die inspiriert ist von der Idee der Erweiterung – eine Idee, die übrigens alle meine Arbeiten prägt. So wie EXPORT auch Erweiterung bedeutet, das Raus aus dem Port, aus dem Hafen … In der Erweiterung liegt die Möglichkeit zur Veränderung. Es kommen andere Teile dazu und dann ist es ein anderes, vielleicht sogar ein neues Produkt. Diese Fähigkeit zur Expansion macht unser Denken aus und das macht unser Mensch-Sein aus.

Aus dem Gespräch bisher hat man den Eindruck, dass du extrem konzeptionell arbeitest, dass du dir ganz genau überlegst, was du willst und wie die Arbeit ausschauen soll. Wo ist für dich beim Arbeiten Raum für so etwas wie Spontaneität?
Für Kunst aus dem Bauch? Ich möchte natürlich etwas ausdrücken, das Impulsive und Spontane ist sozusagen der Ausgangspunkt.

1 VALIE EXPORT: Expanded Cinema as Expanded Reality. In: JAM, Vol.1, Nr.4, July 1991, S. 7. (= The Newsletter of Media Jar, Milwaukee’s Media Arts Collective.) (Vortrag)
2 TRANSFER IDENTITIES, Fotoserie, 1968.
3 VALIE EXPORT: A Fragmentary History of 8mm Film in Austria. In: Exit Art. International Forum of Super-8. New York 1988, S. 44.
4 SCHRIFTZUG. In: Heimrad Bäcker (Hg.): Photo/ Literatur. Linz: edition neue texte 1974. (Fotografiert 1973.)

Das Interview ist ein Auszug aus einem längeren Gespräch, das Brigitta Burger-Utzer und Sylvia Szely im Dezember 2006 mit VALIE EXPORT geführt haben. Das vollständige Gespräch wird erscheinen in: Sylvia Szely (Hg.): EXPORT LEXIKON. Chronologie der bewegten Bilder bei VALIE EXPORT. Sonderzahl: Wien 2007, ca. 300 Seiten, ca. 200 Abb., € 25 ,-