ray Filmmagazin » Österreich » Import Export – Ein Gespräch mit Ulrich Seidl

Import Export – Ein Gespräch mit Ulrich Seidl

| Andreas Ungerböck :: Roman Scheiber |

Ulrich Seidls neuer Film „Import Export“ dreht sich um Sexarbeit, Migration, Jobarmut und Tod. Allen Versuchen der Verleugnung und Verdrängung real existierenden Unsozialismus wird erneut der Kampf angesagt. Ein Wirklichkeitswerker im Gespräch.

Werbung

Seine erste kurze Arbeit an der Wiener Filmakademie, entstanden 1980, porträtiert einen kleinwüchsigen Mann. Einsvierzig ist natürlich ein ungeschliffener Film, nimmt aber eine Grundvoraussetzung des gesamten folgenden Werks des Filmemachers Ulrich Seidl vorweg: Hier wird nicht ein Außenseiter politisch korrekt schöngefilmt, sondern ein Zwerg, der mitunter auch schön gemein sein kann, in seinem „normalen“ Leben gezeigt.

Viele Tableaus sonderbar in der Gegend herumstehender Figuren später, eine Menge drastischer Szenen und bloßgelegter privater Momente (in denen alltäglich-rituelle Machtspiele, psychische Gewalt und trauriger Sex eine Rolle spielen) und etliche Filme über vorwiegend jenseits geordneter bürgerlicher Verhältnisse lebende Menschen hinter sich, ist Ulrich Seidl – neben Michael Haneke – zum international anerkanntesten Filmemacher Österreichs geworden.

Begonnen hat Seidl als eigenwillig inszenierender Dokumentarist, zwischenzeitig angekommen ist er – auf der Höhe seiner bisherigen Kunst – beim möglichst nicht gespielt wirkenden Spielfilm. Dazwischen lagen, um nur drei Beispiele zu nennen, die tschechisch-österreichische Grenzerzählung Mit Verlust ist zu rechnen (1992), Tierische Liebe (1995), in dem Haustiere als Antidepressiva fungieren, und eine hässliche Innenansicht des Schönheitsgeschäfts (Models, 1998).

Mit einem überhitzten Leporello großstädtischen Ausuferns (und gemischtem Personal aus Laien und Profis) brach Seidl durch: Hundstage (2001) gilt ob seines im Vergleich zu früheren Arbeiten deutlich gestiegenen Inszenierungsgrades als erster „echter“ Spielfilm des spätberufenen Filmkünstlers.

In seinem neuen, bei diversen Festivals akklamierten Feature Import Export verbindet sich Seidls akribisch dokumentarischer Zugang erneut mit der ihm eigenen Stilistik der Verstörung. Olga (Ekateryna Rak), eine ukrainische Krankenschwester, kommt mit einem Touristenvisum nach Österreich, um einen Job zu suchen. Sie landet schließlich als Putzfrau in der Lainzer Geriatrie. Paul (Paul Hofmann), ein perspektiv- und arbeitsloser Security-Mann aus Wien, begleitet seinen Stiefvater (Michael Thomas) auf Automaten-Montagetour in den tiefsten Osten der Ukraine. Dort nehmen Sex und Alkohol am Ende überhand.

Ein „monumentales Doppel-Roadmovie“ nennt Stefan Grissemann Import Export in seinem neuen Buch Sündenfall, einer detaillierten Analyse des Systems Seidl. Die Ausweitung der Kampfzone ins neue Europa, zwei gegenläufige Erzählbewegungen auf derselben Achse (einander nicht berührend), die letzten Zuckungen einsamer Bettlägeriger, betreut von Maria Hofstätter und Georg Friedrich: Das ist der neue Sündenfall des hartnäckigen Filmhacklers, dessen Talent zur Kontroverse durch die ersten Pressestimmen nach der Premiere in Cannes wieder einmal untermauert wurde: Der Hollywood-Reporter geißelte „die ekelhafte Ausbeutung“ von Sexarbeiterinnen und Geriatriepatienten und „das ziellose Drehbuch“, wohingegen etwa die Süddeutsche Zeitung sich durch „eine gänzlich eigenwillige Form von Schönheit und Wahrheit“ erhellt sah.

Doch mediale Bewertungen seiner Arbeit stoßen bei Seidl, ähnlich wie die Grenzen des guten Geschmacks, auf eher schwaches Interesse. Normierte Darstellungsformen sind ihm nach wie vor fremd, Voyeurismus-Vorwürfe weist er inzwischen mit einer gewissen Routine zurück.

Wir besuchten Ulrich Seidl in seiner vor vier Jahren gegründeten Produktionsfirma in der Nähe des Wiener Franz-Josefs-Bahnhofs.

Je bekannter ein Filmemacher wird, desto stärker wird die Neigung, ihm ein Etikett zu verpassen. Wenn Sie sich selbst eines verpassen müssten, wie würde es lauten?
Ich würde das tunlichst vermeiden.

Aber wenn Sie Journalist wären und es müssten?
Ich wäre nicht fähig, Journalist zu sein.

Gut, dann operieren wir mit Etikettierungen anderer. Der Kurator Ihres Tribute beim Filmfest Sarajevo, Howard Feinstein, nennt Sie einen „Optimisten, vielleicht einen desillusionierten“. Was können Sie damit anfangen?
Ich werde ja immer als Pessimist gesehen. Die Frage ist stets, warum macht er so pessimistische Filme? Wahrscheinlich bin ich zwar ein Pessimist, aber ein Optimist ist a priori nichts Besseres, sondern er sieht die Wirklichkeit schöner, als sie vielleicht ist. Auch die meisten Filme, sogar wenn sie „arg“ sind, stellen die Wirklichkeit schöner dar, als sie ist, weil die Wirklichkeit immer noch ärger ist.

Wer aber ausschließlich ein Pessimist ist, tut sich Filmemachen nicht an. Dahinter steht natürlich auch das Wollen einer Veränderung, also etwas Optimistisches.

Zu Ihren Figuren wird oft geschrieben, Sie brächten Extreme menschlichen Verhaltens auf die Leinwand. Sie selbst dagegen betonen öfters, es handle sich um ganz typisches menschliches Verhalten. Können Sie diesen Widerspruch auflösen?
Ich finde nicht, dass ich Extreme zeige, sondern mitunter alltägliche Dinge, die sehr viele Menschen und sehr viele Bereiche der Gesellschaft betreffen. In Import Export geht es um die Geriatrie, um die Arbeitslosigkeit, um die Versuche, als junger Mensch einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Das ist etwas Alltägliches für mich.

Nochmals Feinstein. Er meint, Sie machen Leute sichtbar, die man sonst nicht sieht: exzessive, obsessive Charaktere.
Da muss ich widersprechen, das finde ich überhaupt nicht. Welche Figur von Import Export sollte das sein, die man sonst nicht sieht? Wenn Sie sich in einem bestimmten Milieu bewegen, wenn Sie in das Donauplex, in die Millenniumscity oder in ein Shoppingcenter gehen, und genauer hinsehen, werden Sie diese Leute kennen lernen. Wenn Sie sich unter jugendlichen Arbeitslosen umschauen, dann werden Sie viele Typen wie den Pauli aus meinem Film finden.

Wie haben Sie Ihren Paul gefunden?
Wir haben sehr lange gesucht. Mein Vorbild für die Figur des Pauli stammt aus den Dreharbeiten von Zur Lage. Da hatte ich eine Arbeitslosenfamilie aus dem 22. Bezirk kennen gelernt, wo ein 17-Jähriger dabei war. Das Porträt der Familie wurde nie gezeigt, aber das war der Ausgangspunkt. Wir haben auf Arbeitsämtern gesucht, in Lehrlingsheimen, Erziehungsheimen, unter Haftentlassenen, auf der Straße. Viele gute Typen mit argen Geschichten waren dabei, aber um einen Film zu tragen, braucht es auch Charisma.

Wie arbeiten Sie „schauspielerisch“ mit solchen Menschen?
Es ist natürlich immer eine Künstlichkeit dabei, und ein Auftrag, etwas Bestimmtes zu tun, aber im Idealfall ist der Person bekannt, was sie tun soll, und sie muss nicht darüber nachdenken, wie sie das spielt. Nichtschauspieler sollen bei mir nichts verkörpern, was sie nicht sind.

Wie haben Sie die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Paul und seinem Stiefvater Michael angelegt?
Der Stiefvater war nicht im Drehbuch, sondern kam mir sozusagen durch das Casting entgegen. In einem Szenencasting fand ich Michael Thomas so toll neben dem Pauli, dass ich ihn unbedingt einbauen wollte. Daraus entstand erst die Idee mit dem Stiefvater.

Ich bin lange vor dem Dreh mit den beiden in die Ukraine gefahren, um auszuloten, wie sie das aufnehmen. Was würden sie zu zweit machen, was würde der Pauli allein machen? Ideen kann ich ja nur dann umsetzen, wenn die Darsteller das auch so fühlen oder begreifen. Mit der Besetzung ändern sich die Dinge. Der Pauli zum Beispiel hat sich im Ausland extrem unsicher gefühlt, fast neurotisch, hat geglaubt, dass die Leute um ihn herum ihm etwas Böses wollen. Deshalb war er auch immer bewaffnet. Insofern war es für mich reichhaltiger, dass die beiden zusammen etwas tun. Meine Methode dabei ist, dass ich die beiden getrennt voneinander instruiere. Dadurch wissen beide nicht so genau, was passiert, und im Fall von Pauli wirkt das dann sehr authentisch.

Interessant war, dass die beiden im Lauf der Dreharbeiten immer weniger miteinander konnten. Der Pauli hat den Michael nicht als Vorbild gesehen, und ist zusehends aggressiv ihm gegenüber geworden. Das hat einerseits für viele Szenen gepasst, andere haben überhaupt nicht funktioniert.

Wie aufwändig gestaltete sich das Casting der weiblichen Hauptfigur Olga?
Wir haben zuerst in Wien gesucht, viele sind ja diesen Weg hierher gegangen wie sie. Als wir schon an der Arbeit waren, hat sich herausgestellt, dass unsere Putzfrau hier in der Firma, die Natascha, ein ziemlich ähnliches Schicksal hatte: Sie ist vor Jahren mit einem Touristenvisum aus Moldawien gekommen und hat ein kleines Kind zurückgelassen. Ich habe sie dann auch eingesetzt, sie spielt Olgas Freundin in der Geriatrie.

Aber Ekateryna Rak selbst war noch nicht da.
Wir haben sie nach einem wahnsinnig langen Selektionsprozess in der Ukraine ausgewählt. Es war sehr heikel, weil es im Unterschied zu Hundstage um nur zwei zentrale Protagonisten geht. Schauspieler kennt man aus bisherigen Rollen, bei Nichtschauspielern muss man allein deshalb viel ausprobieren, weil man ja nicht weiß, was einen erwartet. Bei Ekateryna Rak habe ich mir zum Beispiel mehr Neugier erwartet, wenn sie zum ersten Mal nach Österreich kommt, und dass da etwas entstehen könnte. Das war dann aber gar nicht so, sie hat sich eher zurückgezogen. Und für meine Begriffe hat sie zu schnell zu gut Deutsch gesprochen.

Mit Ihrer Darstellung von Patienten der Geriatrieabteilung in Lainz, mit der Darstellung „echter“ Menschen, die dem Tod nahe sind: Stoßen Sie da an eine Grenze, wie weit ein Filmemacher gehen darf?
Ja, aber die Grenze ist nicht a priori festgelegt. Eine Ethikkommission gibt es nicht, es gibt also nur eine Antwort: Ich bin dafür verantwortlich, wie ich mit den Menschen umgehe und wie ich sie zeige. Ich glaube, dass ich sie in ihrer Würde belassen zeige.

Warum kommt kein Original-Pflegepersonal vor?
Das hatte ich natürlich vor, aber wir haben niemanden gefunden, der vor der Kamera gut war, und die meisten wollten ohnehin nicht mitmachen, weil sie nichts falsch machen wollten. Das Pflegepersonal, und natürlich auch die Oberschwestern und Ärzte, waren zugleich das größte Hindernis für die Drehgenehmigungen. Wobei man sagen muss, dass die Verantwortlichen durch die früheren Skandale medial so gebeutelt sind, dass sie sich überhaupt nichts mehr trauen. Sobald nur irgendetwas passiert, sobald einer mit dem Rollstuhl umfällt, steht das in der Kronen-Zeitung.

War es sehr schwierig, die Genehmigungen zu bekommen?
Es war sehr langwierig und aufwändig. Auf der politischen Ebene hat uns der Pflege-Ombudsmann Werner Vogt geholfen, aber das Problem lag darin, dass wir bis hinunter zu jedem Einzelnen, der dort arbeitet, eine Genehmigung gebraucht haben.

Bei den Patienten dagegen war es nicht schwierig, Einverständniserklärungen von den Angehörigen oder Sachwaltern zu bekommen.

Das verwundert angesichts doch sehr intimer Szenen.
Es war aber so. Man muss auch die andere Seite sehen. Einiges mag abstoßend wirken, oder nicht leicht zu nehmen, aber es liegt auch eine Zärtlichkeit und Schönheit in der Sache.

Gegen Ende der Geschichte erlebt Olga nicht mehr sehr viel. Warum nicht?
Wir hatten mehr Material gedreht, zum Beispiel in einer Ausländerinnen-WG mit Freundinnen aus dem Osten. Sie hätten sich unterhalten, wie man sich gegenüber der Polizei verhält, wären in die Disco gegangen, solche Dinge. Aber das hat nicht funktioniert für den Film.

Ich komme noch einmal zu einer Beschreibung Ihrer Arbeit zurück. Im Pocket Guide der Viennale steht …
… dafür bin ich nicht verantwortlich.

Natürlich nicht, aber im Pocket Guide der Viennale steht im Kurztext zu Import Export: „Hartnäckiger, schrankenloser Dokumentarismus vermählt sich erneut höchst eigenwillig mit der Kunst verstörender Stilisierung.“ Okay?
Versteht das jemand? Also ich finde das unverständlich.

Wenn man Sie über Ihre moralische Einstellung zur Arbeit fragt, klingt die Antwort oft so, dass sie auch von Michael Haneke sein könnte: die Vision vom würdigen Leben, Gesellschaftskritik, der Wunsch, die Menschen im Kino auf sich selbst zurückzuwerfen …
Ich glaube nicht, dass bei Haneke die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen werden. Für meine Filme trifft das zu, dass die Menschen verstört und mit einer Wahrheit konfrontiert werden, der man sich einfach stellen muss. Und wenn es einen selber nicht betrifft, dann jemand anderen, den man kennt. Jedenfalls kann man sich nicht so leicht davonstehlen.

Abgesehen von den offensichtlichen Unterschieden: Hat denn Ihr Kino mit dem Hanekes gar nichts zu tun?
Ausländische Journalisten sehen wohl die Gemeinsamkeit, dass wir beide hart mit der österreichischen Wirklichkeit umgehen. Mag sein, dass wir uns bei der Kritik an der Gesellschaft treffen. Aber die Arbeitsweise ist grundverschieden: Haneke legt sich alles im Kopf zurecht und setzt es punktgenau um, ich mache eher Reisen mit meinem Team, bin für alles offen.

Sind Sie mit Ihrer Art der Integration von Dokument und Fiktion nun dort, wo Sie künstlerisch sein wollen?
Ich habe begonnen mit so genannten Dokumentarfilmen, und mein Weg hat mich immer stärker zur Inszenierung geführt. Doch das dokumentarische Umfeld bleibt immer mit einbezogen. Eine Geriatrie zu bauen und Statisten hineinzulegen, käme für mich nicht in Frage.