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Ein Dossier – Direct Cinema – Albert Maysles im Gespräch

„Wir nahmen die Rolle von Beobachtern ein“

| Herbert Krill |

Seit den frühen Sechziger Jahren drehten die Brüder Albert und David Maysles gemeinsam Filme und schufen mit Arbeiten wie Salesman oder Grey Gardens einige der herausragenden Filme des Direct Cinema. Albert Maysles über die Zusammenarbeit mit seinem 1987 verstorbenen Bruder, über blindes Vertrauen und gemeinsame Wertvorstellungen.

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In diesem Interview geht es um die Zusammenarbeit mit Ihrem Bruder David. Wie war es generell, mit ihm zu arbeiten?
Das Erste, was mir zur Arbeit mit meinem Bruder einfällt, ist unsere Motorrad-Reise durch Russland. Damals gab es Tage, an denen wir 200 bis 300 Meilen zurücklegten, das war ziemlich anstrengend für den Fahrer. Wir wechselten also von Zeit zu Zeit die Sitzplätze, und wer immer von uns beiden hinten saß, war so müde, dass er den Kopf auf die Schulter des Fahrers legte und ihn mit seinen Armen umklammerte. So nahe standen David und ich einander. Ich glaube, was uns half war, dass wir nie konkurrierende Rollen hatten. Ich war stets für die Kamera verantwortlich, mein Bruder für den Ton. David half stets mit der Entscheidung über das „Wo“ und „Wann“, mit dem Schnitt hatte ich jedoch nichts zu tun. Kurz: Wir hatten wichtige Rollen, die nicht miteinander in Konflikt gerieten.

In der Filmindustrie gibt es zahlreiche Bruder-Partnerschaften. Wieso glauben Sie, dass Brüder so gut zusammenarbeiten können?
Was andere betrifft, kann ich das zwar nicht beurteilen, aber es mag schon stimmen. Was uns betrifft, hatten wir eine ähnliche Einstellung gegenüber Menschen, nicht nur bei der Arbeit. In meinem Fall verdanke ich viel meiner Mutter, die eine Bürgerrechtskämpferin war und der Meinung, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckt. Deshalb ist für mich auch bei der Arbeit ein wichtiger Aspekt, den Menschen, die man filmt, Zuneigung zu zeigen, mitzufühlen, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie einem vertrauen können. Und dass man darauf bedacht ist, die Wahrheit zu sagen.

Sie würden also sagen, Ihr Bruder und Sie hatten die selben Wertvorstellungen?
Ja, darüber besteht absolut kein Zweifel. Wir hatten dieselben Wertvorstellungen, stimmten stets überein. Wir hatten eine aufrichtige Zuneigung zueinander, und das war immer schon so.

Der Altersunterschied zwischen David und Ihnen war ja doch recht groß. Sechs Jahre mögen zwar nicht so viel sein, wenn man älter wird, aber wenn man aufwächst, ist das ja doch einiges. Wie sehen Sie das?
Ich glaube, es waren fünf Jahre. Ich empfand allerdings nie einen großen Unterschied zwischen uns, denn als wir begannen, Filme zu machen, da war ich schon in meinen Dreißigern, und mein Bruder war dicht dahinter.

Trug Ihr Bruder etwas Unentbehrliches zu Ihren Filmen bei?
Wir griffen einige sehr umstrittene Themen auf, wie etwa Abtreibung oder Armut, und in diesen Fällen hatten wir sehr strikt zu sein. Ich glaube also nicht, dass sich nach Davids Tod in meiner Einstellung zu diesen Themen etwas änderte. Aber ich habe einige meiner besten Filme gemeinsam mit meinem Bruder gemacht: Gimme Shelter, Salesman, Grey Gardens – diese Filme sind auf fast jeder Liste unter den zehn oder zwanzig der besten Dokumentarfilme aller Zeiten.

Sie erwähnten, dass Sie für die Kamera und Ihr Bruder für den Ton verantwortlich waren. Wenn ich mit Ton-Leuten zusammenarbeite, dann sind diese meist distanziert, bleiben vom Prozess fern, halten nur das Mikrofon und stehen ein wenig abseits. Wie war das mit Ihrem Bruder?
Wir nahmen beide quasi die Rolle von Beobachtern ein. Wir machten keine Interviews, stellten keine Fragen, kontrollierten nicht, was sich abspielte. Aber zu diesem Zeitpunkt, mit der großen Kamera auf meiner Schulter und einem Auge hinter der Kamera, konnte ich natürlich keine tiefere Beziehung zu den Leuten, die ich filmte, aufbauen. Sie sahen mich nur hinter der Kamera – aber sie sahen meinen Bruder. Das war insofern wichtig, als dadurch eine Vertrauensbasis aufgebaut werden konnte. David war in der Hinsicht also ein wichtiger Vermittler.

Das heißt, Ihr Bruder hatte einen etwas direkteren Kontakt zu den Menschen.
Während wir filmten, ja.

Als Sie zum Beispiel „Salesman“ filmten – waren da nur Sie und Ihr Bruder involviert?
Ja, bei Salesman waren es nur wir beide. Bei Grey Gardens waren es ebenfalls nur wir beide. Und bei Gimme Shelter waren es wir beide mit der Ausnahme des Konzerts in Altamont, wo wir viele Kameras benötigten, um dieses eintägige Ereignis zu begleiten.

Fühlten Sie je eine Rivalität zwischen Geschwistern?
Sehen Sie, in jüdischen Familien wird der erstgeborene Sohn stark bevorzugt. Er wird erfolgreich sein, den Familiennamen weiterführen – das war also meine Rolle. Mein Bruder wurde ebenso geliebt wie ich, aber er wurde schlichtweg als jemand akzeptiert, der ein angeborenes Talent hatte und nichts beweisen musste. Es gab in dieser Hinsicht sowohl Vor- als auch Nachteile für beide von uns.

Wäre es denkbar gewesen, dass er die Rolle des Kameramanns übernimmt? Gab es Unterschiede im Talent zwischen Ihnen beiden?
Wir hatten schon unterschiedliche Talente. Er war wirklich gut darin, den Film zu schneiden, mit dem anderen Cutter zu arbeiten, und er konnte außerdem gut mit Menschen umgehen. Ich denke also, dass unser jeweiliger Beitrag gleich groß war.

Ich habe in einem Artikel gelesen, dass er Kameramann werden hätte können, aber zögerte, weil Sie so gut darin waren.
Ich habe ehrlich keinen blassen Schimmer, was er mit einer Kamera in seiner Hand gemacht hätte. Ich sah in nie mit einer Kamera, nicht mal mit einem Fotoapparat.

Wie begann Ihre gemeinsame Arbeit eigentlich?
Lassen Sie mich mal überlegen … Ich begann alleine, machte einen Film über psychiatrische Kliniken in Russland mit dem Titel Psychiatry in Russia. Das war 1955. Nur ein wenig später machte David seinen Hochschulabschluss und Militärdienst. Er begann, mit Milton Greene zu arbeiten, der ein berühmter Fotograf war und zwei Filme mit Marilyn Monroe produzierte. Über ihn kam mein Bruder zum Film und startete seine Karriere eigentlich mit Spielfilmen. Dann, in den Sechziger Jahren, als ich mit Leacock, Pennebaker und Drew an der Arbeit zu Primary begann und damit das Genre des Dokumentarfilms auf eine neue Ebene brachte, fühlte mein Bruder, dass es eben das war, was er wirklich tun wollte. Er begann mit uns zu arbeiten und stellte Recherchen zu verschiedenen Projekten an. Und von dem Zeitpunkt an waren wir dann zu zweit. Ich verließ die Drew-Gruppe im Jahr 1962, und David und ich machten unseren ersten gemeinsamen Film Showman. Ein Freund meines Bruders hatte vorgeschlagen, dass wir einen Film über Joseph E. Levine drehen sollten. Es war also indirekt gesehen die Idee meines Bruders.

War das der Moment, als Sie beschlossen, von nun an gemeinsam Filme zu machen?
Nun ja, es lief alles so gut, und für uns war der Film ein Erfolg. Wir machten danach einige Industriefilme und Werbespots, mit denen wir unsere Arbeit finanzierten, und der nächste Durchbruch kam 1964, als wir einen Film über die US-Tournee der Beatles drehten: What‘s Happening! The Beatles in the U.S.A.

Sie und Ihr Bruder hatten aber doch sicher auch – so wie die „Salesmen“ – ihre Höhen und  Tiefen …
Wir teilten die Höhen und Tiefen miteinander, unterstützten einander. Eines der größten Probleme war es, für die Kosten aufzukommen. Bei Salesman, Grey Gardens und Gimme Shelter zahlten wir alles aus der eigenen Tasche und stürzten uns in gröbere Schulden. Selbst mit dem Verkauf der DVDs haben wir diese Ausgaben nicht wieder hereinbekommen.

Wie sehen Sie die Entwicklung des Dokumentarfilms über die Jahre – und  wie haben Sie sich selbst weiterentwickelt?
Wir haben ja mit Salesman einen großen Sprung nach vorne gemacht. Das gleiche gilt für Grey Gardens, vielleicht war dieser Schritt sogar noch größer, denn der Film ist eine gründliche Untersuchung einer sehr wichtigen menschlichen Beziehung, jener zwischen Mutter und Tochter. Aber so wie ich die Dinge heute sehe, würde ich gerne kurze Arbeiten machen, die man vielleicht Dokumentargedichte nennen könnte. Um ein Beispiel zu nennen: Anderntags sah ich einen Mann auf der Straße, der mir entgegenkam, mit erhobenen Armen, und er war ganz aufgeregt – er jagte einem Schmetterling hinterher. Das ist jetzt natürlich nicht Stoff für einen ganzen Film, aber es ist ein schönes kleines Stück Poesie.