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Jean Epstein – Spuren instabiler Bedingtheiten

Spuren instabiler Bedingtheiten

| Barbara Wurm |

Die erste deutsche Veröffentlichung präsentiert eine Auswahl seiner Schriften: Kino, gedacht von Jean Epstein.

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Sein Stil ist so unfassbar (ungreifbar, genial) wie seine Filme, wie er selbst: Jean Epstein (1897–1953). Zwischen radikaler Analyse und absoluter Hingabe sticht diese Sprache taumelnd durch die Welt des Denkens und des Bewusstseins – und noch viel mehr durch die des Unbewussten. Mal sind es beinahe wissenschaftliche Studien, mal philosophische Reflexionen und immer wieder Hymnen der Poesie wie des Rausches, die Epstein aus der Sprache meißelt, einer Sprache, die literarisch ist bis ins Letzte, die also äußerste Präzision und Sensibilität zu einen vermag mit verspielt experimenteller Metaphorik. Und dabei bleibt alles bezogen auf die Welt, die seine war: die Kinematografie, genauer, ihr Wesen, ihr Potenzial, ihren Esprit.

Nun sind Epsteins Bonjour Cinéma und andere Schriften zum Kino erstmals auf Deutsch erschienen, herausgegeben von Nicole Brenez und Ralph Eue, der auch die schwierige, aufwendige Übersetzung und Kommentierung unternahm. Ein ganzes referenzielles Netz an Wissensgebieten und Namen wird da aufgespannt: Das Urgestein der frühesten Filmtheorie zum Beispiel, Ricciotto Canudo, apostrophiert Epstein in dem visio-nären Grundlagentext Der Ätna, vom Kinematographen her betrachtet (1926) als ersten, der jene „umfassendste Lebendigkeit“ der „beseelten Dinge“ im Kino erkannte. Epstein schildert das poetisch-realistisch („Engel der Unterwasserwelt, Organe der Wollust, geheime Medusen tanzen. Insekten erscheinen groß wie Panzer, grausam wie die Intelligenz, einander verschlingend.“), formuliert daraus einen grundlegenden Animismus („Auf der Leinwand gibt es kein Stillleben. Die Dinge verhalten sich.“) und nennt die Quintessenz der Kinematografie – wie bereits seine direkten Ahnen und impressionistischen Mitstreiter Louis Delluc und Germaine Dulac – „photogénie“ (ein Begriff, der über Béla Balázs die Runde machte und bis heute als zentrale Unbekannte unseren filmtheoretischen Diskurs mitbestimmt; eine fast legendäre Verunsicherung, die freilich mit der sukzessiven Erschließung der frühen französischen Filmtheorie im deutschen Sprachraum – zu der dieser Band ein erster wichtiger Schritt ist – wohl endlich verebben wird). Wollte Kracauers Idee vom Kino die äußere Wirklichkeit erretten, so umkreist Epstein das Irrationale, einen „a-intellektuellen mentalen Zustand“ des Ichs, wie es in dem Textausschnitt aus dem Buch La Lyrosophie (1922) in der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse heißt. Dennoch belässt er nichts dem Obskuren, analysiert Techniken und Verfahren des „subtilen Blicks aus Glas“, des „Auges ohne Vorurteil“, forscht, klärt auf. Er klingt dabei stellenweise wie die experimentellen Theoretiker der sowjetischen Avantgarde, Dziga Vertov oder Sergej Eisenstein, nur mit etwas anderen Vektoren, was die Zielrichtung der Utopie Kino betrifft. Für Gilles Deleuze wird Epstein zu einem zentralen Bezugspunkt seiner Kino-Bücher, und auch hier lässt sich trotz der Ausführlichkeit, mit der Deleuze gerade auf Epsteins Bewegungskonzeption der „photogénie“ verweist, ein Changieren zwischen den Polen erkennen, in diesem Fall zwischen Bewegungs- und Zeitbild.

Epsteins Denken und Schreiben markiert selbst, wovon es handelt: von der Verschiebung nämlich „von eingefleischter Unbedingtheit zu instabilen Bedingtheiten“ – so in einem Nachkriegstext zur „Zeitlosen Zeit“, entnommen seinem Buch Die Intelligenz der Maschine (1946). Kaum zeigt sich eine Nähe zu Geometrie und Kinematik, schon kommt die Wende und man befindet sich mitten im Reich der Affektproduktion (etwa im Text Alkohol und Kino). Kaum passiert man einen Grundkurs zur Philosophie, schon wird man über die Physik hinübermanövriert zur Politik und Moral des Films – gipfelnd in Epsteins Beschluss, das Kino sei (bei aller Vorliebe für das Himmlische und religiöse Ekstasen) die Kunst des Dämonischen: Das Kino des Teufels heißt sein letztes zu Lebzeiten erschienenes Buch (1947). Klare Fronten gibt es gegen das Theater; überraschend hingegen ist, dass sowohl die moderne Literatur als auch die visuellen Erkundungen der Malerei als wesentliche Bezugsgrößen für das Kino funktionieren (das liegt am grundsätzlichen Bewegungsdenken Epsteins, für ihn ist die neuere Literatur geradezu vorbildhaft Zeit-Kunst). Ganz wenig erfahren wir über einzelne Filme – auch nicht über die eigenen, seien es die dokumentarischen zu Pasteur (1922) oder das lyrische Küstengemälde Le Tempestaire (1947), seien es die großen fiktiven Werke Coeur fidéle (1923) oder La Chute de la maison Usher (1928). Das ist nicht die Methode von Epstein, nicht der Kern seines Schreibens: Die Exegese eines einzelnen Werkes wäre immer zu wenig, strikte Verallgemeinerungen zu viel. Das Kino, das in diesem riesigen Zwischenreich jedoch entsteht, erfährt eine maximale Ausdehnung, wird zur Größe – als Kultur des Denkens ebenso wie als einzig mögliche Annäherung an den Bereich jenseits des Rationalen.

Der selektiv-chronologische Charakter des Bandes unterstützt nur die Vielschichtigkeit der Schriften, er lässt die Begrüßungsformel aus Epsteins erster Textsammlung Bonjour Cinéma (1921) nie enden. Wenn man nach diesen Streifzügen zwischen „Gangsterfilmmoral“ und „dem Absoluten“, Phythagoras und Platon, „Revolte“ und „Bezweiflung des Selbst“ schließlich angekommen ist bei den klug-assoziativen Nachworten der Herausgeber, so hat man die Suche nach Ordnungskriterien längst aufgegeben; man wünscht sich vielleicht die eine oder andere Erklärung, wie es zur Auswahl genau dieser Texte gekommen ist, wähnt sich aber glücklich, dass der Anfang einer wohl noch lange anhaltenden Spurensuche endlich erreicht ist. Im Reich Epstein. Im Reich der Kinematografie.