ray Filmmagazin » Interview » Mike Leigh: „Mit jedem Film begebe ich mich auf eine neue Reise“
Mike Leigh
Mike Leigh

Mike Leigh

„Mit jedem Film begebe ich mich auf eine neue Reise“

| Pamela Jahn |

Mike Leigh über seinen neuen Film „Happy-Go-Lucky“, die ewige Unsicherheit vor Drehbeginn und die Wichtigkeit der Improvisation.

Werbung

Er genießt es, umstritten zu sein. Seine vielschichtigen, subtilen Familiendramen und Komödien haben dem überzeugten Realisten langsam aber beständig wachsenden Ruhm als Vertreter des sozialkritisch engagierten Kinos eingebracht. Mit Bleak Moments gab Mike Leigh 1971 sein Kinodebüt, erst 17 Jahre später folgte mit High Hopes sein zweiter Film. Dazwischen inszenierte er nahezu pausenlos am Theater und produzierte Fernsehfilme für die BBC. Doch sein Herz hatte er damals schon ans Kino verloren. Beinahe hätte er es nun geschafft, mit seinem neuen Film Happy-Go-Lucky auf der diesjährigen Berlinale den großen Coup zu landen. Dem 65-Jährigen fehlt nach der Goldenen Palme für Secrets & Lies (1996) und dem Goldenen Löwen für Vera Drake (2004) nur noch der Goldene Bär im Trophäenregal.

Das Erstaunlichste an Mike Leighs Arbeitsstil ist der Schöpfungsprozess, mit dem er seine Filme in Zusammenarbeit mit den Schauspielern entwickelt, und diesmal schlägt er dabei einen überraschend leichten Ton an. Poppy (Sally Hawkins) ist Grundschullehrerin in London, grellbunt gekleidet und stets schrecklich gut gelaunt. Viel Geld hat sie nicht, auch keinen Mann, aber sie scheint rundum zufrieden mit sich und der Welt. Nachdem ihr das Fahrrad gestohlen wird, entschließt sie sich, Fahrstunden zu nehmen. Doch Fahrlehrer Scott entpuppt sich als ein zwanghafter, jähzorniger und rassistisch veranlagter Einzelgänger, bei dem selbst Poppy das Lachen vergeht. Seine Handlung findet der Film allein durch die Figur der Poppy, und vielleicht ist es eine der größten Leistungen von Leigh, ihrem Dauerflirt mit dem Leben im Laufe des Films eine ganz erstaunliche Tiefe zu verleihen.

 

Sie drehen seit über 35 Jahren Filme. In „Mike Leigh on Mike Leigh“, einer vor kurzem auf English erschienenen Interviewsammlung zu ihrem filmischen Werk, gestehen Sie am Ende, dass Sie sich noch nie so unsicher über einen neuen Film waren wie zu Beginn der Proben zu Happy-Go-Lucky. Was war für Sie persönlich diesmal anders?
Mike Leigh:
Das ist sehr schwer zu sagen. Sehen Sie, mit jedem neuen Film begebe ich mich auf eine Reise, deren Verlauf zunächst sehr vage und unbestimmt ist. Und wie gewöhnlich hatte ich auch bei Happy-Go-Lucky zu Beginn nur ein Gefühl für den Film, an das ich mich erst ganz langsam herantasten musste, in monatelangen Proben ohne Drehbuch. Wenn Sie mich heute fragen, glaube ich, dass diese anfängliche Ungewissheit bei Happy-Go-Lucky letztlich nicht unbedingt stärker war als sonst. Hätte mich Amy Raphael, die mit mir die Interviews für das Buch führte, bei den Proben zu All or Nothing besucht, hätte ich sicher genau das Gleiche gesagt. Ich fühle mich immer schrecklich unsicher, wenn ich einen neuen Film angehe, und ich denke jedes Mal wieder, es wird ein Desaster, bis sich die einzelnen Bilder langsam zusammenfügen. Daran hat sich im Laufe der Jahre nichts geändert.

Mit der demonstrierten guten Laune in Happy-Go-Lucky haben Sie Publikum wie Kritiker, die Sie bisher als erbarmungslosen, pessimistischen Realisten bezeichneten, gleichermaßen in Staunen versetzt. Wie reagieren Sie auf derartige Versuche, Ihren Stil als Filmemacher zu definieren?
Mike Leigh: Mich interessiert solches Gerede gar nicht. Ich weiß, wovon meine Filme handeln. Und jeder meiner Filme ist anders. Jeder Film hat seine eigene Funktion, sein eigenes Territorium, sein eigenes Motiv, sein eigenes Wesen, wenn Sie so wollen. Happy-Go-Lucky bezeichnet für mich keinen Richtungswechsel in dem Sinne, wie die Kritiker meinen, einfach weil die allgemeine Ansicht, ich sei ein Miesepeter, kompletter Unsinn ist. Ebenso wenig stimmt es, dass es Happy-Go-Lucky an Sozialkritik mangelt. Ganz allgemein dreht sich der Film, wie jeder meiner Filme, um die Frage, wie sich ein Mensch innerhalb der Gesellschaft verhält. Es wird unheimlich viel darüber ausgesagt, wie wir leben, wie wir lehren, wie wir lernen, wie man erwachsen ist, glückliche Beziehungen führt, wie wir in der heutigen Gesellschaft überleben und wie wir mit Problemen umgehen. Die verschiedenen Lebensmodelle, die der Film behandelt, liegen in der Realität selbst, in realen sozialen Konflikten, und in diesem Sinne ist Happy-Go-Lucky dann auch „politisch”. Ich bin allerdings keineswegs daran interessiert, Propagandafilme oder Ähnliches zu machen. Ich treffe keine moralischen Urteile, ich ziehe keine Schlüsse. Meine Filme sind realistisch. Happy-Go-Lucky ist zwar ein gerade heraus lebensbejahender und komischer, aber mitunter auch sehr nachdenklicher Film.

Ist der Film eine Reaktion auf die Weltuntergangsstimmung in der heutigen Kinokultur? Welche Botschaft steckt dahinter?
Mike Leigh: Es besteht kein Zweifel daran, dass unsere Gesellschaft auf eine Katastrophe zusteuert, es ist deshalb sehr einfach für uns und geradezu zeitgemäß, pessimistisch zu sein und die Dinge negativ zu betrachten. Doch bei allem Elend und Hass in der Welt gibt es Menschen, die positiv denken und die anderen helfen wollen, und ein Großteil dieser Menschen sind Lehrer. So wie Poppy. Menschen, die sich um unsere Kinder kümmern, um unsere Zukunft. Ich finde, daraus sollte jeder für sich selbst seine ganz persönlichen Lehren und Nutzen ziehen. Das zu zeigen, habe ich mir mit dem Film erhofft.

Poppy ist nicht nur die Hauptfigur, sie ist in nahezu jeder Szene des Films präsent.  Wie sehr hat die Schauspielerin Sally Hawkins die Gewichtigkeit der Figur beeinflusst?
Mike Leigh: Sally ist eine unheimlich talentierte Schauspielerin, und wir hatten bereits in All or Nothing und Vera Drake zusammen gearbeitet. Mir war von vornherein klar, dass sie die tragende Rolle des Films übernehmen sollte. Während der Proben hat sich das immer mehr bestätigt. Sally ist nicht gleich Poppy, aber sie hat einen wunderbar natürlichen Humor und strahlt eine ganz besondere Energie und menschliche Wärme aus, die ich unbedingt einfangen wollte.

Die Handlung wirkt dagegen eher beiläufig …
Mike Leigh: Das eigentliche Geschehen ist doch sehr subtil. Nach der Premiere des Films in Berlin kamen Leute auf mich zu und meinten, ihnen sei nach dem Film zum Heulen, aber sie wüssten gar nicht warum. Ich denke, das liegt daran, dass man sich in der Beziehung zu Poppy auf eine sehr interessante und komplexe Reise begibt. Meistens fängt es damit an, dass man sich fragt, ob man diese gnadenlos gut gelaunte Person überhaupt ausstehen kann. Aber das geht relativ schnell vorbei, und dann sieht man hinter ihre kunterbunte Fassade und entdeckt eine Frau, die extrem bodenständig, intelligent, pflichtbewusst und erwachsen ist, und die einen unwiderstehlichen Charme hat. Das Besondere an dem Film ist tatsächlich, dass es bis auf zwei kleine Szenen keine parallel laufende Handlung gibt, wie das zum Beispiel in Naked oder auch in Vera Drake noch der Fall war. Diesmal ging es mir explizit darum zu verfolgen, was mit dieser jungen, liebevoll-chaotischen Grundschullehrerin geschieht.

Ist der Film eine Liebeserklärung an die Jugend?
Mike Leigh: In gewisser Weise schon. Wenn ich es verallgemeinern müsste, würde ich allerdings eher sagen, der Film ist eine Liebeserklärung an das Leben in der Großstadt.

Inwiefern spielt dann London eine Rolle in ihrem Film?
Mike Leigh: Wir haben den Film in London gedreht, allein deshalb spielt die Stadt auch eine Rolle. Allerdings wehre ich mich dagegen zu sagen, es sei ein Film über London, das stimmt so nicht. Ich habe viele Filme in London gedreht, einfach weil es billiger ist. Es ist eine große und unheimlich vielseitige Stadt, aber das interessiert mich im Grunde nicht. Mir geht es um die Menschen, die darin aufwachsen und leben. Ich erzähle urbane Geschichten, weil ich selbst städtisch geprägt bin. Ich komme aus Manchester.

Was fasziniert Sie so sehr an der Art und Weise, wie wir erwachsen werden?
Mike Leigh: Was mich fasziniert, sind Menschen, sind Prozesse und Lebensmodelle. In meinen Filmen geht es um das Altern genauso wie um Beobachtungen des Erwachsenwerdens. Womit ich mich bisher am wenigsten auseinandergesetzt habe, ist sicherlich Kindheit, aber das liegt an der Art und Weise, wie ich Filme mache. Eine derart intensive schauspielerische Leistung kann man von einem Kind nicht erwarten.

Wie genau funktioniert die Zusammenarbeit mit den Schauspielern?
Mike Leigh: Die Vorarbeiten laufen in zwei Stufen ab. Monate vor den eigentlichen Dreharbeiten fange ich an, individuell mit jedem Schauspieler unter vier Augen zu arbeiten, um gemeinsam einen Charakter zu entwickeln. Dabei wird viel improvisiert, recherchiert, experimentiert. Diese Treffen finden allerdings in unregelmäßigen Abständen statt, die meiste Zeit sind die Schauspieler mit sich selbst beschäftigt, jeder für sich allein. Währenddessen arbeite ich gemeinsam mit Dick Pope, dem Kameramann, und anderen Mitgliedern der Crew, um das Konzept für den Film zu erstellen. Erst dann führe ich die Schauspieler zusammen, um die konkreten Szenen zu erarbeiten.

Hat sich ihre Methode der Improvisation mit den Schauspielern vor Drehbeginn im Laufe der Jahre geändert?
Mike Leigh: An den Methoden hat sich grundsätzlich nichts geändert. Allerdings war es diesmal komplizierter als etwa bei
Vera Drake, wo ich von vornherein genau wusste, dass der Film von einer Abtreibungshelferin in den Fünfziger Jahren handeln sollte. Im Falle von Happy-Go-Lucky hat sich erst im Laufe der Proben ganz langsam herauskristallisiert, wie die einzelnen Figuren zueinander in Beziehung stehen, und was mit Poppy im Film geschehen soll.

Sie arbeiten immer wieder mit denselben Schauspielern. Wird der Improvisationsprozess dann einfacher?
Mike Leigh: Es stimmt, ich greife gern auf Schauspieler zurück, mit denen ich bereits in der Vergangenheit gedreht habe. Die Mehrzahl der Besetzung ist aber immer ganz neu. Was die Proben angeht, sind die beim ersten Mal komplettes Neuland, für die Schauspieler wie für mich. Es ist ein sehr arbeitsintensiver und mitunter sehr kräftezehrender Prozess, aber ich empfinde diese Zeit gleichzeitig als unheimlich erfrischend. Richtig spannend  wird es allerdings erst beim zweiten Mal, wenn es darum geht, mit dem Schauspieler eine ganz neue Figur zu kreieren, eine neue Art und Weise zu finden, wie man mit einem Charakter umgeht. Nie die gleichen Figuren noch einmal schaffen, das ist ganz wichtig.

Sie gelten neben Stephen Frears und Ken Loach als bedeutendster Vertreter des ‚New British Cinema‘ …
Mike Leigh: Es liegt sicherlich nahe, meine Filme im Kontext der ‚British New Wave’ Bewegung zu betrachten. Ich denke jedoch, dass meine Arbeit sich trotz allem auch sehr davon unterscheidet. Meine Filme werden außerhalb Großbritanniens immer mit denen von Ken Loach verglichen. Aber – bei allem Respekt für Ken Loach – nicht nur in ihrer ästhetischen Dimension, sondern auch in ihrem Wesen unterscheiden sich unsere Filme doch maßgeblich voneinander. Die Herangehensweise an die Realisierung eines Themas, die Sprache, die Musik ist eine ganz andere.

Zwölf Jahre lang haben Sie ausschließlich Fernsehfilme für die BBC gedreht. Inwiefern hat diese Zeit Ihre Kariere als unabhängiger Filmemacher in England beeinflusst?
Mike Leigh: In der Zeit, zwischen 1972 und 1984, war das sehr wichtig für mich. Es war für uns alle immens wichtig. Niemand hat in den Siebziger Jahren in England unabhängige Filme gemacht. Das änderte sich erst Anfang der Achtziger Jahre mit Channel Four. Die BBC war damals eine kleine Welt, und wenn die Finanzierung für ein Projekt bestätigt war, hatte man als Regisseur relativ freie Hand. Mein großes Bedürfnis war allerdings immer schon, ein breiteres Publikum zu erreichen. High Hopes war in diesem Sinne dann eine große Befreiung für mich, weil ich endlich auch wieder für das Kino drehen konnte.

Vor wenigen Monaten sind Sie 65 Jahre alt geworden. Mit welchen Gefühlen blicken Sie heute auf ihre Kariere zurück?
Mike Leigh: Ich kann mich unheimlich glücklich schätzen, denke ich. Man hat mir in meinem Land immer die Freiheit gegeben, so zu arbeiten, wie ich es wollte, und dabei sind bisher neben 18 Spielfilmen auch über 20 Theaterstücke entstanden. Ich kenne viele Kollegen, die diese Freiheit ganz einfach nicht haben. Was mein künstlerisches Schaffen angeht, gab es für mich nie Kompromisse. Das ist auch heute noch so.  Aber ich muss gestehen, ich bin ein Mensch, der eher ungern zurückblickt. Viel lieber schaue ich nach vorn.

Welche Art von Filmen wollen sie in Zukunft drehen?
Mike Leigh: Ich habe das Bedürfnis, komplexere Dinge zu erklären. Seit langem schon versuche ich einen Film über den Maler William Turner zu drehen. Ich finde, er ist ein unheimlich faszinierender Charakter, eine großartige Figur für das Kino. Allerdings kostet so etwas natürlich viel mehr Geld, und schon ist keiner mehr interessiert.

Frustriert es Sie, dass Sie trotz Ihres großen Erfolges weltweit noch immer Probleme haben, Ihre Filme zu finanzieren?
Mike Leigh: Ich bin mir natürlich darüber im Klaren, dass das vor allem an meiner Arbeitsweise liegt. Zum Zeitpunkt der Finanzierung eines neuen Projekts steht ja noch nichts – kein Script, keine Besetzungsliste und oft noch nicht mal eine Idee, die sich ausformulieren ließe. Andererseits, sie sagen es, bin ich nicht mehr der Jüngste. Aber ich bin nach wie vor voller Energie und wünschte, ich könnte aus dem Format ausbrechen, in dem ich bisher Filme gedreht habe. Jetzt ist die Zeit, noch habe ich die Kraft dafür.