ray Filmmagazin » Drama » Wolke 9

Mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte wird die Annäherung an ein weitgehend tabuisiertes Thema versucht.

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Ab und zu Händchenhalten, hier eine flüchtige Umarmung und dort einen sanften Kuss. Mehr Sexualität wird Menschen über sechzig nicht zugestanden, weil sich die jugendfixierte Gesellschaft nicht vorstellen kann, dass Frauen auch noch mit Falten und schlaffen Brüsten für einen Mann sexuell attraktiv sind. Vertrauen, Freundschaft und Treue, das sind die Schlagwörter, die man mit Liebe im Alter in Verbindung bringt. Auch das Kino wagte bislang nicht, diese Grenze zu überschreiten, aus Angst vor der Ablehnung durch die Zuschauer, die makellose Körper gewohnt sind. Skurril wie in Elsa und Fred (2005), das dürfen die Menschen mit sechzig plus sein, aber bitte nicht sexuell aktiv.

Andreas Dresen bricht in seinem neuen Film Wolke 9 mit diesem Tabu, ohne es skandalös zu inszenieren. Er versucht, die aufkommende Leidenschaft zwischen der über sechzigjährigen Inge (Ursula Werner) und dem wesentlich älteren Karl (Horst Westphal) wie eine ganz gewöhnliche Liebesgeschichte zu zeigen, mit all ihrem Überschwang, Schmetterlingen im Bauch und Sex bis zum Morgengrauen. Der einzige große Unterschied bei diesem Paar: Es wird definitiv ihr letztes Liebesabenteuer sein, denn für ein weiteres bleibt ihnen keine Lebenszeit. Mit dieser Konsequenz muss auch der verlassene Ehemann Werner (Horst Rehberg) leben, der sich von Inge verraten fühlt und nicht fassen kann, dass ein Mensch im Rentenalter noch Gefühle wie ein verliebter Teenager verspürt. Auch Inges Tochter verblüfft die Radikalität ihrer Mutter, mit der sie ihr altes Leben hinter sich lässt und nach Jahren der Aufopferung für Mann und Kind endlich ihr eigenes, ganz selbst bestimmtes Leben führt. Wahrscheinlich nicht zuletzt, weil sie sich vor den Folgen fürchtet, welche die Entscheidung der Mutter für sie implizieren.

Andreas Dresen ist mit Wolke 9 ein wunderbarer Liebesfilm gelungen, der sich fernab der üblichen Klischeevorstellungen von alten Menschen bewegt. Dafür ist der Regisseur bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes in der Nebenreihe „Un certain regard“ zu recht mit dem Coup de Coeur ausgezeichnet worden. Wolke 9 ist auch das Porträt einer Frau, die es wagt, im fortgeschrittenen Alter noch einmal ins kalte Wasser zu springen. Ein Film, der zeigt, dass wir uns unserer Liebe nie sicher sein können, und der Lust macht auf die Überraschungen, die das Alter für uns noch bereithält.