ray Filmmagazin » Interview » „Casting ist ein Hoserunterlassen auf beiden Seiten“

Dossier – „Casting ist ein Hoserunterlassen auf beiden Seiten“

„Casting ist ein Hoserunterlassen auf beiden Seiten“

| Anna Katharina Wohlgenannt |

Angefangen hat alles mit Kommissar Rex. Es folgten über 50 weitere Fernseh- und Kinoproduktionen, darunter „Die Klavierspielerin“, „Hundstage“, „Hotel“ , „Silentium“ , „Die Fälscher“ oder „Ein Augenblick Freiheit“: kaum eine erfolgreiche österreichische Produktion der letzten Jahre, in der er nicht seine Hände mit im Spiel hatte. Ein Gespräch mit dem Casting-Agenten Markus Schleinzer.

Werbung

Als Markus Schleinzer 1994 in seinem Metier zu arbeiten begonnen hat, gab es dieses in Österreich eigentlich noch gar nicht. Zurückführen lässt sich das auf die ursprüngliche Organisation des österreichischen Films in einem Studiosystem. Filmstudios wie die Wien-Film schlossen mit ihren Stars, Neben- und Kleindarstellern mehrjährige Verträge ab und schöpften somit die Besetzung ihrer Filme stets aus diesem einen Personal-Pool. Mit dem Aufkommen des Fernsehens und der damit verbundenen Krise der Kinoindustrie übernahmen die Besetzungsbüros der einzelnen Fernseh-Sender die Suche nach den geeigneten Schauspielern. Zudem kümmerten sich die  Regisseure selbst, unterstützt von der Regie-Assistenz, um die Besetzung, Castings im eigentlichen Sinn gab es kaum. Die Branche war überschaubar, so Michael Haneke: „Man hat die Schauspieler einfach gekannt, wenn man in dem Bereich tätig war.“ Viele Autorenfilmer schrieben die Hauptrollen Schauspielern dementsprechend auch direkt auf den Leib, wodurch die Besetzung der wichtigsten Parts von vornherein geklärt war. Wie essentiell aber auch eine richtige Besetzung der Neben-, ja sogar Kleindarsteller für die Wirkung eines Films ist – weil ja, wie Jessica Hausner es formuliert „jede Figur ihre Farbe, Melodie und Tonalität“ in die filmische Handlung mit einbringt – dafür musste sich erst nach und nach ein Bewusstsein entwickeln. Regisseure begannen von sich aus zu fordern, dass der Bereich Casting wie ein eigenes Department zu organisieren und von einer oder mehreren Personen zu betreuen sei – vergleichbar mit Maske, Kostüm, Ausstattung.

Was in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und den USA schon längst Standard ist, ist in den letzten Jahren also auch in Österreich ein wenig in Gang gekommen. Dank seinem dramaturgischen Gespür, seinem Blick für schauspielerische Qualitäten und seinem grenzenlos anmutenden Einfallsreichtum, wenn es darum geht, die passende Besetzung für jede noch so kleine Rolle zu finden, hat Markus Schleinzer, der sich mittlerweile einen Namen als der Mann für die „schwierigen Rollen“ (Michael Haneke) gemacht hat, den österreichischen Film der letzten Jahre wesentlich mitgeprägt.

Wie würden Sie Ihre Tätigkeit beschreiben? Was genau tun Sie eigentlich?
Ich caste. Das ist nicht zu verwechseln mit besetzen. Mein Beruf besteht darin, Regisseuren mehrere Möglichkeiten zu bieten, Figuren ihres Drehbuchs richtig zu besetzen. Mir muss es gelingen, durch die Augen der Regisseure hindurch zu sehen, um herauszufinden, welche Leute zu ihnen und ihrer Geschichte passen. Nachdem ich das Drehbuch gelesen habe, beginnt die Arbeit immer mit sehr vielen Gesprächen. Oft fangen wir gar nicht so schnell mit Castings an, sondern diskutieren erstmal über das Buch, ich bringe Videotapes mit und wir schauen Fallbeispiele an. Das ist ein dramaturgischer Beruf.

Inwiefern dramaturgisch?
Manchmal ist es nicht egal, ob im Bild eine blonde oder schwarzhaarige Frau sitzt. Das lässt sich gut am Beispiel von Florian Flickers Suzie Washington erklären: Eine Flüchtlingsfrau, gespielt von der schwarzhaarigen Birgit Doll, bleibt am Flughafen Schwechat hängen und sitzt einer dunkelhaarigen österreichischen Beamtin gegenüber, die ein Protokoll aufnehmen muss. An beiden Seiten des Tisches sitzen Frauen des ähnlichen Typs. Dadurch vermittelt dieses Bild, dass es im Leben letzten Endes nur darauf ankommt, auf welcher Seite des Tisches man sitzt. Das, was Florian Flicker erzählen wollte, ist durch eine richtige Wahl der Darstellerinnen– die richtige Wahl gibt es ja nie – extrem verstärkt worden.

Was passiert nach den Gesprächen mit den Regisseuren?
Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Die klassische Variante ist, sich mit Schauspiel-Agenturen in Verbindung zu setzen, Fotos und Demobänder anzufordern und dann diejenigen, die in Betracht kommen könnten, zu einem Casting einzuladen. Ich arbeite aber sehr oft vielschichtiger und suche die Menschen dort, wo sie auch tatsächlich anzutreffen sind. Da kommt es dann schon mal vor, dass ich Swingerclubs auf der Suche nach Swingern abklappere.

Wie laufen die Castings dann ab?
Prinzipiell ist es so, dass der Castingprozess mit jedem Regisseur ein anderer ist, weil jeder Regisseur etwas Anderes braucht. Ich für mich versuche der Arbeit am Set und der Filmarbeit möglichst nahe zu kommen. Es geht dabei nicht darum, ob die Leute ihren Text schön aufsagen können, sondern wichtig ist herauszufinden, ob sie sich in gewisse Situationen hineinbegeben können. Ich finde, das lässt sich nur erzeugen, wenn man diesen Weg auch mitgeht. Also bleibe ich nicht hinter der Kamera, sondern spiele mit den Leuten die jeweiligen Szenen.

Für viele Schauspieler bedeuten Castings eine extreme nervliche Aufreibung, reizvolle Jobs sind äußerst rar hier zu Lande. Wie gehen Sie mit den Hoffnungen und Ängsten der Menschen um, denen Sie während der Castings begegnen?
Ich sage Schauspielern immer wieder, dass sie sich vor Castings nicht fürchten sollen, weil das doch ein Hosenrunterlassen auf beiden Seiten ist. Man ist ja keine Nutte als Schauspieler. Aber Tatsache ist natürlich, dass es hundertmal mehr Menschen gibt, die von sich sagen, dass sie Schauspieler sind, als dass Arbeit vorhanden ist.

Manchmal nehme ich Menschen auch die Hoffnung und sage ihnen, dass ich nicht glaube, dass sie den richtigen Beruf ansteuern. Ich finde, Schauspieler sollte man nur werden, wenn man Hauptrollen spielen will. Man muss großes Selbstvertrauen haben, um den Beruf zu ergreifen. Neben allem künstlerischen Denken und Tun muss man immer wieder einen Blick haben auf die Realität des Lebens – und in Österreich ist der Sektor Film nun einmal sehr schmal.

In Österreich verschwimmen immer mehr die Grenzen zwischen Schauspielern und Laien. Jessica Hausner und Ulrich Seidl arbeiten gerne mit Laien. Wie gehen Sie da vor? Arbeiten Sie mit denen beim Casting anders als mit Schauspielern?
Absolut. Bei Hundstage von Ulrich Seidl gab es kaum ein Drehbuch, sondern nur einige wenige Seiten, auf denen er skizziert hatte, welchen Inhalt die einzelnen Episoden haben könnten. Mit diesem Material haben wir uns auf die Suche nach Menschen gemacht, die passen könnten und mit diesen dann Interviews in der Figur geführt. Das lief folgendermaßen ab: Ich habe ihnen Eckdaten von den Geschehnissen in der Episode erzählt und ihnen Fragen zur Geschichte gestellt. In einer Episode geht es um ein Scheidungspaar, dessen Kind ums Leben gekommen ist und das immer noch im selben Haus wohnt. Die Frauen, die wir für die Rolle der Ehefrau gecastet haben, habe ich unter anderem gefragt, wie sie ihren jeweiligen Ex-Mann kennen gelernt haben und sie haben dann von dieser Zeit gesprochen. So haben wir herausgefunden, was für Welten diese erfinden können und wie eine Figur entstehen kann. Vieles von dem was während der Castings erfunden wurde, ist dann auch in den Film hineingekommen.

So ein Casting hat dann oft Stunden gedauert, und wir haben sehr viel Material verschossen. Damals habe ich dann ein wenig revoltiert, weil ich das Gefühl hatte, dass sich Seidl zu spät selber einbringt. Ich habe tagelang Leute nackt bei mir im Bett liegen gehabt, die mit anderen nackten Leuten irgendwelche Sachen gemacht und improvisiert haben. Später habe ich dann verstanden, dass das für ihn nur logisch ist, weil er sich erst als Filmemacher involviert, wenn es für ihn relevant ist.

Während Ulrich Seidl also die Methode der Improvisation benützt, um herauszufinden, welchen Menschen er vor sich hat und welchen Inhalt dieser ihm, ohne Selbstreflexion, zu geben bereit ist, geht Jessica Hausner sehr viel distanzierter vor …
Jessica geht es weniger um eine Aufsicht auf Menschen, wie das bei Seidl der Fall ist, sondern es geht ihr um eine Innensicht, geboren aus Sehnsucht und Kommunikationsunfähigkeit. Sie nimmt gerne selber die Kamera in die Hand. Mit ihr verläuft die Arbeit so, dass im Vorfeld viel organisiert wird und in dem Augenblick, wo es interessant wird, springt sie dazu und dann ist man mitunter nur mehr Anspielpartner. Für sie ist sehr wichtig zu sehen, wie weit sie mit einem Darsteller kommen kann, sie nimmt gerne sehr aktiv am Castingprozess teil.

Auch mit Michael Haneke haben Sie schon mehrmals zusammen gearbeitet. Worauf legt er insbesondere Wert?
Bei Haneke geht es immer vorrangig um Sicherheit. Für das Projekt Das weisse Band haben wir über ein Jahr lang Kinder gesucht und insgesamt über 10.000 Kinder gesehen. Die Castings liefen so ab, dass wir die Kinder alle schwierigen Szenen haben spielen lassen. Da gab es Fälle, da hat ein Kind eine Szene gut gespielt und eine nicht so – wodurch es dann ausgeschieden ist. Auf diese Weise haben wir eine Sicherheit und eine Garantie hergestellt. Am Drehtag war das quasi „beste“ Kind da und dann musste die Szene „nur“ mehr gedreht werden. Der Beweis zur Möglichkeit war erbracht, und man ist mit weniger Bauchweh in den Drehtag gegangen.

Ein derart akribischer Castingprozess ist mit extrem viel Kosten und Zeit verbunden – Kategorien, die beim Fernsehen Mangelware sind. Inwiefern unterscheidet sich Ihre Arbeit fürs Fernsehen von jener fürs Kino?
Beim Fernsehen ist die Besetzung nicht ausschließlich etwas zwischen dem Regisseur, dem Caster und dem Produzenten, sondern da schließen sich noch Instanzen mit ein, wie die Redakteure der beteiligten Sender. Da Fernsehen außerdem viel schneller produziert – bei einem Kinofilm sitze ich ja oft ein bis eineinhalb Jahre, beim Fernsehen hingegen werde ich im Normalfall vier bis fünf Monate vor Drehbeginn angefragt –, ist die optimale Besetzung oft nicht zu gewährleisten. Beliebte und oft eingeforderte Schauspieler sind nämlich häufig schon anderswo unter Vertrag. Aber das ist auch in Ordnung so, weil beim Fernsehfilm geht es ja nicht darum, ein in Stein gemeißeltes Kunstwerk zu schaffen. Man geht halt zu einem Wunschkandidaten hin und wenn der keine Zeit hat,  dann geht man zum nächsten Wunschkandidaten und ist auch zufrieden. Fürs Fernsehen zu arbeiten ist deswegen nicht schlechter oder langweiliger. Es ist einfach anders. Mir ist es im Endeffekt egal, ob was auf ORF 2 läuft oder in Cannes präsentiert wird – wenn ich mich für was entschieden habe, dann mache ich das. Gerne. Und das kann genau so gut Bezirksrichterin Julia sein oder der neue Film von Michael Haneke.