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Die Stadt der Blinden

| Walter Gasperi |

In einer anonymen Großstadt erblinden aus heiterem Himmel zahlreiche Menschen. Je mehr sich die Epidemie ausbreitet, desto mehr zerbröckelt auch die dünne Schicht von Menschlichkeit und Solidarität.

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Bestechend ist das visuelle Konzept, das Fernando Meirelles und sein Kameramann César Charlone für ihre Verfilmung des 1995 erschienenen Romans des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago entworfen haben: Entsprechend der Wahrnehmung der Erblindenden, bei denen sich jedes Bild in grelles Weiß auflöst, sind die Bilder des Films stark überbelichtet, die Farben förmlich ausgetrieben. Manchmal sieht man so nur noch Schemen, andere Szenen wiederum sind beinahe in völlige Dunkelheit getaucht. Mit diesen Verfremdungen wird der Zuschauer ebenso wie durch die vielen extremen Nahaufnahmen in einen Zustand der Desorientierung, der Hilflosigkeit und Verwirrung versetzt, der dem der Blinden nahe kommt. Nie gewinnt man einen Überblick, nie kommt man aber auch den namenlos bleibenden Figuren näher.

Da mögen Julianne Moore, Mark Ruffalo und Gael Garcia Bernal noch so beherzt spielen, angesichts eines Regiekonzepts, das ihnen nur Trägerfunktion innerhalb einer Versuchsanordnung zugesteht, können sie keine Charaktere aus Fleisch und Blut entwickeln. Emotional ausgesperrt bleibt der Zuschauer so auch, als sich in dem ehemaligen Krankenhaus, in dem die Blinden in Quarantäne gehalten werden, die Situation zuspitzt. Die Regeln der Menschlichkeit werden im Kampf ums rationierte Essen über Bord geworfen, ein Mann reißt dabei die Macht an sich, Waren werden zunächst nur gegen Schmuck und dann gegen sexuelle Leistungen der Frauen verteilt.

Klar, aber eben auch sehr kühl zeigt Meirelles in der Adaption der literarischen Vorlage, und ähnlich wie William Golding einst in Lord of the Flies, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist und wie diese in Ausnahmesituationen zerbröckelt, wie Gier, Ausbeutung und Demütigungen durchbrechen. Im Stile von Alfonso Cuarons Children of Men und Danny Boyles 28 Days Later evoziert Meirelles zwar vor allem im letzten Abschnitt eine düstere Endzeitstimmung, doch im Gegensatz zu echten Katastrophenfilmen fehlt dieser Literaturverfilmung, hinter der man in einigen Szenen auch einen Kommentar zum Nord-Süd-Gegensatz sehen kann, in seiner „Verkopfung“ das physische und emotionale Element. Unübersehbar ist zwar, dass Saramago und Meirelles die Blindheit nicht physi-
ologisch verstanden wissen wollen, sondern als eine geistige Blindheit, ein Fehlen von Glauben oder auch Mitmenschlichkeit, die den Menschen in den Abgrund stürzen, aber allein aus Gedanken und Theorien entwickelt ein Film noch kein Leben.