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Retour en Normandie

| Hans Christian Leitich |

Mit viel Sinn für Zwischentöne erinnert Nicolas Philibert an ein frühes Großwerk des Neuen Heimatfilms.

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Ferkel kommen auf die Welt, kurz danach wird ein Schwein geschlachtet. Die Kamera hat nicht nur keine Scheu vor blutigen Nahaufnahmen, sondern sie legt eine Gelassenheit an den Tag, welche diesen Szenen vom Filmanfang einen programmatischen Charakter geben. Denn wenn dann Einwohner nordwestfranzösischer Dörfer dreißig Jahre erzählerisch Revue passieren lassen, haben sie Zeit zu formulieren und lächelnd zu relativieren. Wie in Être et avoir, der einjährigen Detailstudie des Alltags in einer entlegenen Einraum-Volksschule, lässt der französische Dokumentarist Nicolas Philibert wenig Zweifel daran, wie sehr er gewisse Eigenheiten des Landlebens schätzt, ohne für dessen Schattenseiten blind zu sein. Der Anlass für die Unterhaltungen ist ein spezifischer, eine Rückschau auf einen Monolithen von einem Film, ein vielerorts vergessenes Schlüsselwerk für die Herausbildung des Genres des Neuen Heimatfilms, René Allios Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma soeur et mon frère   aus dem Jahr 1976. Dessen Basis waren zum einen umfängliche Unterlagen und Memoiren zu einem Kriminalfall von 1835, als ein Bauernbursch aus latenter Verzweiflung und eingebildeter religiöser Mission einen Großteil seiner Familie umbrachte, zum zweiten eine psychologisch-politische Studie des Philosophen Michel Foucault zu diesem Fall. Die aufgeklärt-archaische Wucht der Verfilmung beruhte wesentlich auf der Entscheidung der Regie, bäuerliche Laiendarsteller für die Verkörperung ihrer Quasi-Vorfahren heranzuziehen. Philibert war damals erst Location-Scout, dann Regieassistent Allios, ein lockenköpfiger Twen, spürbar Altersgenosse jener Städter, die pionierhaft Biobauernhöfe begründeten. Entlang von Ausschnitten aus Moi, Pierre Rivière,… raisonnieren die einstigen Akteure nun über die Monate, in denen sie in die glamouröse Gegenwelt des Films eintauchten: eine Horizonterweiterung, über die facettenreich anekdotisch erzählt werden kann, weil Realitätssinn nie verloren ging. Dass Religionsgeprägtheit ohne korrigierende Vernunft zum potenziell Fatalen einer ländlichen Gesellschaft gehört, ist steter diskreter Subtext der von gegenseitiger Sympathie getragenen Gespräche; und eine diesbezügliche Pointe ergibt sich durch das Rätsel um den mysteriösen Verbleib des Hauptdarstellers von einst.