Visionary – Film-Reise

Film-Reise

| Andrea Winklbauer |

Ein neues Festival des unabhängigen, experimentellen und dokumentarischen Films tourt durch Österreich: VISIONary.

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Filmvermittlung lautet das Stichwort, wenn ab Ende April ein neues Festival auf Tournee geht: VISIONary wurde erfunden, um dem innovativen Filmschaffen aus Österreich neue Publikumsschichten zu erschließen. Am 30. April startet die erste Ausgabe der von sixpackfilm konzipierten und organisierten Filmschau vom Wiener Stadtkino aus zu ihrer ersten Bundesländertour. Die neun von Michael Loebenstein und Norbert Pfaffenbichler kuratierten Programme – für sieben Abende mit je zwei Spätvorstellungen zusätzlich – enthalten Kurz-, Experimental- und Dokumentarfilme sowie Musikvideos. Von nun an soll ein VISIONary-Update mit neuen Filmen alle zwei Jahre durch Österreich touren. Finanziert durch ein Sonderbudget für Filmvermittlung des Bundesministeriums für Unterreicht und Kunst, richtet sich ein Fokus auch auf die Vorführung in Schulen. Und so liegt neben der Zusammenarbeit mit der Diagonale, dem Festival des österreichischen Films, auch die Einbindung des in der Filmvermittlung an Schülern erfahrenen Teams von filmABC nahe. Die Zeitschrift kolik.film bringt eine Sondernummer über den österreichischen Film heraus, den Trailer für das VISIONary-Filmfestival hat Experimentalfilmer Peter Tscherkassky gebastelt und der Tribute gilt heuer in einem eigenen Programm der Filmemacherin und Künstlerin Mara Mattuschka.

Für das Programm wurden fast ausschließlich Produktionen der Jahre 2007 und 2008 ausgewählt, wobei sich die beiden Kuratoren das Material nach Genres aufteilten: Der ehemalige Falter-Filmkritiker, Veranstalter, Autor und Mediengestalter Michael Loebenstein wählte unter den Dokumentarfilmen aus, der Filmkünstler und Kurator Norbert Pfaffenbichler unter den Experimentalfilmen. Große Filmproduktionen, die ohnehin regulär ins Kino kommen, wird man bei VISIONary nicht sehen können, dafür jedoch ein – natürlich sehr persönliches – Best- of aus zwei Jahren unabhängigen, innovativen Filmschaffens in Österreich. Ausschlaggebend für die Auswahl waren „Originalität im Erzählen von Geschichten, gesellschaftspolitische Relevanz und formale Innovation“. Unter diesen Vorzeichen wurden nicht allein die ursprünglich angedachten sieben Programme zusammengestellt, sondern – auch, weil das Material so vielfältig war – gleich zwei zusätzliche Late-Night-Specials konzipiert. Die Sortierung zu Programmen erfolgte thematisch: Titel wie Somewhere Else, (Hi)stories, A Sound Odyssey oder Sex! vermögen einiges zu versprechen.

Filmischer Aussichtspunkt

Die ersten beiden Programme beinhalten je einen abendfüllenden Dokumentarfilm. Einer davon ist Natasha, Ulli Gladiks fein differenziertes Porträt einer bulgarischen Bettlerin in Graz (siehe Kasten auf Seite 73). Der andere ist Peter Schreiners Bellavista, der vor zwei Jahren auf der Diagonale mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. In Schwarzweiß und monumentaler Ruhe entwickelt dieser Glücksfall eines Dokumentarfilms eine beachtliche Spannung. Seine Hauptfigur Giuliana ist aus der Fremde in ihr norditalienisches Heimatdorf zurückgekehrt und hat das Hotel ihrer Familie übernommen. In ihre persönlichen Reminiszenzen an ihre Kindheit, die Brüder, ihre einstige Hybris, mischen sich die Erinnerungen älterer Leute an früher, die Trauer um den Verlust, unter anderem den ihrer Sprache, das Plodarische, das mit dem Niedergang der alten bäuerlichen Tradition und Kultur verschwindet. Was die schwarz-weißen Bilder und lapidaren Sätze umkreisen, mag ein Geheimnis sein, dessen Enthüllung nicht einfach gezeigt oder ausgesprochen werden kann. Der filmische Aussichtspunkt Bellavista ist zwar geografisch (in Sappada = Pladen oder Plodn) verortet, doch bildet er  zur selben Zeit auch eine Plattform für den Blick nach innen.

Eine balancierte Mischung aus kurzen experimentellen und essayistischen Filmen ist im Programm Take Your Time – Take My Time zu sehen. Hier bildet Astrid Ofners Kafka-Versuch Sag es mir Dienstag den Auftakt. In der Tonspur wird aus Briefen Kafkas an Milena Jesenská gelesen und dazu passende Musik von Anton von Webern eingespielt. Die künstlich gealterten Bilder zeigen das heutige Wien: Es geht um einen Aufenthalt des Schriftstellers in der Donau-Metropole 1920 und um seinen Tod in einem Sanatorium im nahe gelegenen Kierling 1924. Nicht ohne Grund erinnert der darauf folgende Film an Ang Lees The Ice Storm. Darin flattert ein Plastiksackerl so durch die Gegend, als besäße das kleine Ding Verstand und Sinn für Poesie. The Green Bag von Tim Sharp ist ein „Gelegenheitsfund“: Von der Terrasse eines Hotelrestaurants in Äthiopien aus gefilmt, verfolgt Green das Treiben einer kleinen, leeren Plastiktasche, die wie absichtsvoll immer wieder ins Bild zurück geflogen kommt, während Passanten achtlos vorüber gehen. „Documentary happens“, sagt der Untertitel dazu. Der Mini-Epilog deutet die Fortsetzung der Geschichte als Variante an. Nach Filmen von Josef Dabernig und Isabella Hollauf (Aquarena), Siegfried A. Fruhauf (Night Sweat) und Ben Pointeker (. ….. .:.:…:::ccccoCCoooo::) endet das Programm mit 24/4 (Into the Direction of Light) von Michael Aschauer, einer feinen, fast abstrakten Landschaftsstudie in Zeitraffer, mit statischem Meerblick, dynamisiert durch den schnellen Wechsel von Tageszeiten und Licht.

Keine Illusionen

Das vielleicht aufregendste Programm von VISIONary ist Meta Film. Darin sind Filme zu sehen, die andere Filme paraphrasieren, zerpflücken, neu zusammensetzen oder sich einfach ihrer Strategien bedienen. Michaela Schwentners la petite illusion ist eine flirrend abstrahierte Collage aus bekannten französischen Filmklassikern wie Truffauts Jules et Jim. Für Borgate (italienisch: Vorstadt) glich Lotte Schreiber heutige Aufnahmen des – unter Mussolini geplanten und in der Nachkriegszeit gebauten – römischen Stadtviertels Don Bosco mit Tonspuren aus dort gedrehten Klassikern des italienischen Films wie Mamma Roma (Pasolini, 1962) oder La dolce vita (Fellini, 1960) ab. Zu O-Ton aus Stanley Kubricks frühem Kriegsfilm Paths of Glory (1957) zeigt Dietmar Offenhuber in seinem zackigen Paths of Glory eine in wenige fette Pixel aufgelöste, kurze Fahrt durch eine nur mittels Nummern zuordenbare Kaderstrecke. In Cityscapes von Michaela Grill und Martin Siewert sind es historische Wien-Aufnahmen, die durch digitale Bearbeitung überlagert und verfremdet wurden. Immer wieder aufregend (wenn auch grundverschieden) sind Johann Lurfs Vertigo Rush und Norbert Pfaffenbichlers Mosaik Mécanique. Während Lurf in Vertigo Rush im immer schnelleren Vor und Zurück mit Hitchcocks berühmtem „Vertigo-Effekt“ (Zoom aus dem Bild bei gleichzeitiger Vorwärtsfahrt der Kamera) experimentiert, bringt Mosaik Mécanique, zu einem Soundtrack von Bernhard Lang, mit zerschnittenen und übereinander geschichteten historischen Aufnahmen eines mechanischen Klaviers, alle 96 Einstellungen eines Chaplin-Films mosaikartig nebeneinander im Loop auf die Leinwand. Der letzte Film des Programms, Ella Gallienis Horse Camp, zeigt das seltsame Treiben von Menschen in den Korridoren eines Filmstudios und endet mit einem Godard-Zitat.

Gleich zwei Programme versammeln kurze Dokumentarfilme. Im Programm Somewhere Else liegt der Schwerpunkt auf Filmen, die ein „Anderswo“ thematisieren. Marina und Sascha, Kohleschiffer von Ivette Löcker porträtiert ein russisches Paar, das als Kohleschiffer auf dem Baikalsee arbeitet, und begleitet die ihr Leben selbst reflektierenden Leute ein Stück durch ihren Alltag, ohne diesen zu exotisieren. Minot, North Dakota von Angelika Brudniak und Cynthia Madansky dagegen zeigt eine monotone Dauerfahrt durch den amerikanischen Mittelwesten, während auf der Tonspur Statements von Einwohnern der Militärbasis-Stadt mitlaufen. Die Minot Air Force Base und die Atomraketen-Abschussrampen sind Relikte des Kalten Krieges, mit denen man in der Stadt noch immer wie selbstverständlich lebt. Johannes Holzhausens Frauentag indes rollt sehr subtil ein lang vergangenes Drama auf und thematisiert damit in individuellen Biografien die Bedeutung von Vertreibung und Grenzen im Herzen Europas.

Heimvideos

Im Programm (Hi)Stories geht es um „persönliche Weltbeschreibungen“, die politisch nicht minder brisant sein können. Maria Arlamovskys vielstimmiger Film Eines Tages, Nachts … handelt von Vergewaltigung als Waffe, wie sie – in diesem Fall im Kongo zehn Jahre nach dem Krieg – immer noch eingesetzt wird. Opfer, aber auch Täter, medizinisches Personal und sogar Unbeteiligte kommen zu Wort. Home.Movie ist eine abenteuerliche, teils rasante Fahrt durch die sehr speziell „eingerichtete“ Wohnung des an Multipler Sklerose leidenden Filmemachers Martin Bruch. Christoph Weihrich hat auf dem Flohmarkt gefundenes, anonymes Amateurmaterial wieder zugänglich gemacht: Sein Film 14. März 1938 – ein Nachmittag zeigt die Originalfassung eines historischen Home Movies mit „Anschluss“-Szenen, auf die banales Blumengießen und Kaffeetrinken folgen. Auch der Film Phaidon – Verlage im Exil von Klub 2 thematisiert den Nationalsozialismus und folgt dabei den Spuren des Verlegers Béla Horovitz von Wien ins englische Exil. Als Verleger visionär, beherrschte dieser die englische Sprache nur in einer sehr alten, literarischen Form. Einen Londoner Taxifahrer fragte er „Whilst thou drive me?“.