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Crossing Europe – Die Qual der Wahl

Die Qual der Wahl

| Alexandra Seitz |

Eindrücke vom Wettbewerb des Crossing Europe Filmfestivals in Linz – ausnahmsweise von einem Mitglied der Jury.

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Niederlande, Schweiz, Deutschland, Schweden, Frankreich, Italien, Bosnien-Herzegowina, Großbritannien und Türkei. Aus diesen neun Ländern kamen die elf Filme, die den diesjährigen Wettbewerb Europäisches Kino des Crossing Europe Filmfestivals in Linz bildeten. Vier Regisseurinnen und sieben Regisseure schickten ihre Erst- oder Zweitlingswerke ins Rennen um den mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreis und die fünfköpfige Jury (der anzugehören ich in diesem Jahr die Ehre hatte) hatte die Qual der Wahl. Freilich kann es an dieser Stelle nicht um die Interna eines gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses gehen, der, soviel sei wenigstens verraten, außerordentlich harmonisch verlief. Vielmehr soll im Folgenden der Wettbewerb in seiner Gesamtheit gewürdigt werden und damit auch jene Filme, die nicht ausgezeichnet wurden.

Die Wettbewerbssektion eines Festivals ist ein Schaufenster, in dem eine Idee gezeigt wird. Gemeinsam bilden die dafür ausgewählten Filme ein Konzentrat jener Vorstellung vom Kino, die das Festival im vielstimmigen Chor der Präsentation von Kinematografien zu vertreten sucht. Ein Wettbewerb kann ein Konzept vermitteln oder eine Haltung, er kann eine politische Stoßrichtung verfolgen, Randständiges ins Zentrum holen, neue Wege beschreiten oder mit eingefahrenen Wahrnehmungsmustern brechen. Er kann Risiken eingehen oder auf Nummer Sicher verharren, sein Publikum vor den Kopf stoßen oder dem Crowdpleaser huldigen. Er muss nichts von alledem tun. Er kann sich an allem versuchen.

Weit davon entfernt, lediglich eine Ansammlung von Unterschiedlichem zu sein, bot jeder der Filme im Linzer Wettbewerb eine einzigartige Gelegenheit; war Einladung zur Verortung und Angebot zum Perspektivwechsel. Wobei in allen Filmen eine unmittelbare Nähe zu den Figuren zu spüren war, eine liebevolle Aufmerksamkeit, die aus fiktiven Gestalten handelnde Menschen werden ließ.

Plastische Figuren

Da ist der Mann in besten Jahren, der in der Hitze Roms einen ganzen Haufen steinalter Damen bekochen muss und dazu eine beachtliche Menge Weißwein braucht (Pranzo di Ferragosto, Gianni Di Gregorio, Italien). Da sind die Mitglieder eines Wanderzirkus, die sich durch ein ausgewachsenes Melodram improvisieren und nebenher einen Eindruck von ihrer Arbeit vermitteln (Calimucho, Eugenie Jansen, Niederlande). Da sind die zwei verliebten Jungs, die eine Radtour in die Brandenburger Schorfheide unternehmen und unterwegs in ein böses Märchen geraten (Rückenwind, Jan Krüger, Deutschland). Da ist der neue Wilde, der für kurze Zeit aus seiner Hütte im Wald zurückkehrt in die Gesellschaft, um einem verlassenen Kind zu helfen (Versailles, Pierre Schoeller, Frankreich). Da ist ein Junge aus Spanien, der betrunken durchs Londoner Nachtleben torkelt und nebenher noch seinen Vater sucht (Unmade Beds, Alexis Dos Santos, Großbritannien). Da ist der Muezzin, der nach Istanbul versetzt wird und sich dort in seine Nachbarin, eine Christin, verliebt (Uzak ihtimal, Mahmut Fazıl Coşkun, Türkei). Da ist die Frau, die nach einem Gewaltakt in ein heruntergekommenes Haus auf dem Land flüchtet und dort dann jeden Halt zu verlieren droht (Kann door huid heen, Esther Rots, Niederlande). Da ist jene, die nach einem Auslandsaufenthalt in ihrer alten Heimat aus dem Tritt gerät und im Stürzen andere mit sich reißt (Du bruit dans la tete, Vincent Pluss, Schweiz). Da sind die verschiedenen Leute, die sich durch passives Zuwarten in extrem unerfreuliche Situationen manövrieren (De Ofrivilliga, Ruben Östlund, Schweden). Da sind Vater und Tochter, die während ihres Urlaubs in Schweden mit den Anforderungen des Erwachsenwerdens konfrontiert werden (Les Grandes personnes, Anna Novion, Frankreich). Und da sind die Frauen eines Dorfes in den Bergen, die nach der Ermordung ihrer Männer ums Weiterleben kämpfen (Snijeg, Aida Begic, Bosnien-Herzegowina).

Sie alle werden in den Geschichten, die die Filmemacher ihnen erfunden haben, plastisch und lebendig. Sie kommen uns nah, weil sie in der Wirklichkeit verwurzelt sind, weil ihre Schicksale vom Jetzt erzählen: von gesellschaftlichen Bedingungen und familiären Bindungen, von sozialen Verflechtungen, politischen Verhältnissen, religiösen Verwirrungen, von subjektiven Sicht- und individuellen Handlungsweisen.

Transzendierende Kraft, ultimative Preisgabe

Bekanntlich macht aber eine gute Geschichte noch keinen guten Film. Findet sie keine Form, die ihrem Sinn gemäß ist, verliert sie an Kraft. Statt zu berühren, demonstriert sie, erschöpft sich im exemplarischen Zeigen, wo sie gefangen nehmen und mitreißen sollte. Wer nichts wagt, gewinnt nichts. Das gilt für Zuschauer wie Filmemacher.

Wenn also De Ofrivilliga mit einer Szene beginnt, in der lediglich die sich bewegenden Beine der Figuren zu sehen sind, während „von oben“ das Begrüßungsgeschnatter eines beginnenden Familienfestes erklingt, dann ist der Gedanke an eine aus der Blickachse gerutschte Kamera nicht nur naheliegend, er erfasst zugleich das zugrundeliegende Darstellungsprinzip: Einen leicht verschobenen, nicht distanzierten, sondern ethnografisch interessierten Blick, der gesellschaftliche Mechanismen der Eingrenzung, Abgrenzung und des Ausschlusses abbildet. Nicht minder gewagt beginnt Uzak ihtimal, mit drei knappen Einstellungen, in denen eine Frau in einer Kirche ein Kind zu Welt bringt und dabei stirbt – mehr braucht es nicht, um zu verdeutlichen, dass das Neugeborene, das hier heranwachsen wird, etwas wie ein Engel sein wird; ein Gottesgeschenk, das im gegebenen Kontext eine Glaubensunterschiede transzendierende Kraft entfaltet. Oder Rückenwind, in dem flirrende Sommerhitze, Waldgeräusche, der Schweiß auf der Haut und das Schweigen sich zu einer Art audiovisuellem Ambient-Sound verdichten, der die Bilder kontinuierlich anfüllt mit diffusen Gefühlen und unklaren Drohungen. Solange, bis in jeder Einstellung knapp außerhalb des Sichtbaren ein namenloser Schrecken spürbar wird. Während die genannten Beispiele dem Zuschauer die Position, die er zum Geschehen einnehmen mag, freistellen, zwingt Kann door huid heen ihm die Innenperspektive seiner Hauptfigur, einer durchdrehenden Frau, mit einer Kompromisslosigkeit auf, die immer wieder den Charakter der Attacke heraufbeschwört, der die Frau ausgesetzt war. Das Filmbild reproduziert die sinnliche Erfahrung; ein Versuch, der nicht gelänge ohne Darstellerin, die bis an die Grenze der Selbstentäußerung zu gehen bereit ist. Einer wie Guillaume Depardieu, der uns in Versailles einmal noch mit seiner zerstörten Physis konfrontiert, stellt in einem Akt der ultimativen Preisgabe sich selbst in diesen Film und verhöhnt ein letztes Mal die Welt. Depardieu, das riesige verzweifelte Vieh, das Zeit seines Lebens um sich schlug, das im vergangenen Jahr zugrunde ging, das nun in den Wäldern heult und der Verirrten harrt.

Auf einem Polaroid, das während eines gemeinsamen Ausflugs aufgenommen wird, richtet der halb angeschnittene Muezzin seinen sehnsuchtsvollen Blick auf seine Nachbarin. Nicht zuletzt wegen der Behutsamkeit und Zärtlichkeit, die in diesem Bild zum Ausdruck kommt, erhielt Uzak ihtimal schließlich den Crossing Europe Award.