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Film und Musik – Einführung in die Polyästhetik

Einführung in die Polyästhetik

| Helene Sorgner |

Der Zyklus Film + Musik live“ geht in die nächste Runde: An vier Abenden zeigt das Konzerthaus Wien im Großen Saal Stummfilmklassiker zeitgenössisch und live vertont.

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Es ist schon ein Erlebnis von besonderer Intensität, wenn sich die visuelle Kraft eines Stummfilms mit jener einer musikalischen Live-Perfomance verbindet. In der Saison 2009/2010 trägt der Konzerthaus-Zyklus mit drei selten gespielten Werken großer Regisseure außerdem zur filmgeschichtlichen Allgemeinbildung bei. Den Anfang macht dabei G. W. Pabst: Nach dem Erfolg von Die freudlose Gasse widmete er sich dem Versuch, im Sinne eines Lehr- und Kulturfilms einige Aspekte der jungen psychoanalytischen Therapie zu erklären. Angeblich basierend auf einem authentischen Fall Sigmund Freuds erzählt Geheimnisse einer Seele (2. Oktober 2009) die Krankheitsgeschichte eines Chemikers, der aus Eifersucht unter bizarren Albträumen und Mordphantasien zu leiden beginnt und in psychoanalytischen Sitzungen der Ursache seines Wahns auf den Grund gehen will. Pabst ließ sich für sein didaktisches Anliegen von zwei Mitarbeitern Freuds beraten und gestaltete insbesondere die Traumsequenzen sehr ausführlich und tricktechnisch elaboriert. Der Herausforderung einer musikalischen Neuinterpretation stellte sich Eric Sleichim; er komponierte, inspiriert von Alban Bergs Lyrischer Suite, einen minimalistischen Klangteppich für die

Percussionisten seines Bl!ndman-Ensembles.

The Lodger (USA 1927), beim zweiten Termin zu sehen, gilt insofern als der erste „echte Hitchcock“, als der junge Regisseur  hier seinen späteren Stil etablierte: Typische Elemente wie der unschuldig Verfolgte, der mysteriöse Fremde und das blonde Opfer finden sich in diesem frühen Thriller ebenso wie experimentierfreudige Licht- und Kameratechnik; und Hitchcock selbst hatte aus Mangel an Statisten den ersten seiner traditionellen Kurzauftritte. 73 Jahre später schuf Jody Talbot, seines Zeichens verantwortlich für den Soundtrack von The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy und zuletzt Son of Rambow, eine neue Filmmusik zu The Lodger. Im Konzerthaus gastiert damit am 27. Februar 2010 das niederländische Hermes-Ensemble.

Weitab von Suspense und Psychoanalyse angesiedelt und doch nicht weniger schaurig ist Max Neufelds Leinwandversion der Oper Hoffmanns Erzählungen (1923). Der österreichische Schauspieler und Filmemacher verknüpfte Motive aus dem Opernlibretto zu einem opulenten Bilderbogen – ein Werk, das sich zu seiner Zeit mit internationalen Produktionen durchaus messen konnte. Mit dem Tonkünstlerorchester und Werken von Berlioz, Schumann, Händel und Offenbach selbst, die Dirigent Helmut Imig mit eigenen Kompositionen verbindet, verspricht der Abend am 20. April 2010 zudem große Symphonie.

Blind Husbands (Die Rache der Berge), der Abschlussfilm am 27. Mai 2010 schließlich, war das Regiedebüt Erich von Stroheims – ein ambivalentes Beziehungsdrama vor den Südtiroler Bergen, in dem er auch selbst die Hauptrolle spielte. 2006 gelang es dem Österreichischen Filmmuseum, eine Version des Films zu rekonstruieren, die der unzensierten Premierenfassung von 1919 am nächsten kommt. Da Günter A. Buchwald, einer der deutschen Pioniere des Stummfilmrevivals seit den Siebziger Jahren, unter anderem alle Filme Erich von Stroheims im Solorepertoire hat, wird er den Abend auf Orgel, Viola und Violine allein bestreiten; und spätestens dann darf man sich gern zurückversetzt fühlen in eine Zeit, als Kino ganz selbstverständlich ein polyästhetisches Erlebnis war.