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Das weisse Band

Das weisse Band

Das Dorf der Verdammten

| Oliver Stangl |

Michael Hanekes „deutsche Kindergeschichte“ Das weiße Band, in Cannes mit der Goldenen Palme prämiert, ist eine Studie über die Mechanismen von Repression am Beispiel einer Dorfgemeinschaft.

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Nach den stummen Eröffnungscredits bleibt die Leinwand eine Weile schwarz. Sehr langsam, mit großem Gewöhnungsbedarf für die Augen, brennt sich ein Landschaftsbild in Schwarzweiß ins Dunkel des Kinosaals.

Ein norddeutsches Dorf am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Der Arzt (Rainer Bock) stürzt mit dem Pferd auf einer Strecke, die er schon unzählige Male geritten ist. Eine kleine unebene Stelle im Boden, so glaubt man anfangs, sei Schuld daran gewesen. Schnell stellt sich heraus, dass der Unfall von einer über den Weg gespannten Schnur verursacht wurde. Die ungewöhnlichen Vorfälle häufen sich, werden zunehmend beunruhigender. Eine Landarbeiterin kommt bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Schließlich wird der Sohn des Gutsherrn schwer misshandelt aufgefunden. Einem geistig behinderten Jungen widerfährt bald das Gleiche. Die Suche nach dem oder den Tätern verläuft ergebnislos. Nur dem Lehrer (Christian Friedel) kommt durch eine Reihe von Beobachtungen allmählich ein furchtbarer Verdacht. Warum interessieren sich die Kinder des Dorfes auffallend für die Opfer? Warum sind sie immer in der Nähe der Tatorte? Und warum wirken ihre Zusammenkünfte mehr konspirativ als spielerisch?

Michael Hanekes neuer Film ist eine Studie über das Aufbrechen scheinbarer Normalität in einer Dorfgemeinschaft. „Normalität“, die freilich zu keiner Minute gegeben ist. Denn dass diese Gesellschaft im Kern krank ist und Abgründe verbirgt, die den Bewohnern von Twin Peaks alle Ehre machen würden, ist von Anfang an klar. Wobei die Untertitelung des Films mit „Eine deutsche Kindergeschichte“ die Intention recht gut trifft – ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den Kindern und Jugendlichen. Das weiße Band ist im Kern eine Studie der Unterdrückung und psychischen Zerstörung junger Menschen. Hat Haneke mit Funny Games (1997) eine Dekonstruktion des Gewaltfilms unternommen, die mit der voyeuristischen Lust des Zusehers an Grausamkeiten spielte und das Szenario „Psychopathen dringen in die Privatsphäre einer Familie ein“ als Schablone verwendete, könnte man – sehr überspitzt formuliert – Das weiße Band als Variante der Horrorfilmsparte „Böse Kinder bedrohen eine Dorfgemeinschaft“ à la Village of the Damned (1960) sehen. Bloß, dass sich der Horror bei Haneke beinahe unsichtbar abspielt: Explizites sieht man kaum. Dass die Grausamkeiten – zumindest großteils – nur angedeutet werden, macht sie einerseits beunruhigender, andererseits fügen sie sich dadurch thematisch gut ins Bild einer Gesellschaft, die ihre Abgründe verdrängt und unterdrückt.

Unterdrückung und Materialismus

Haneke zeigt anhand mehrerer Familien Mechanismen von Erziehung und Züchtigung. Etwa anhand jener des Pastors (gemessenen Tones brutale Erziehungsmaßnahmen verkündend und ausführend: Burghart Klaussner): Dieser ließ seine Kinder im Kleinkindalter ein weißes Band als Zeichen der Reinwaschung und Symbol der Unschuld tragen. Eine abstrakte Unschuld freilich, eine, die vom Erzieher definiert und fern jeder Realität ist. So bleibt etwa einer der Söhne über Nacht ans Bett gefesselt, um ihm das Masturbieren zu verunmöglichen. Auch in den anderen Familien geht es alles andere als idyllisch zu: Der Arzt vergeht sich sexuell an seiner Tochter, weil ihm seine Geliebte, die er deswegen psychisch demütigt, zu alt ist. Der Sohn der verunglückten Landarbeiterin gibt dem Gutsherrn die Schuld und verwüstet dessen Salatfeld, was zur Folge hat, dass die Familie jede Arbeitsmöglichkeit verliert.

Das Materielle wird dabei zu einem eigenständigen Charakter: Wie sein Vorbild Robert Bresson schneidet Haneke oft nicht weg, nachdem Figuren das Bild verlassen, lässt die Kamera auf Wänden oder Gegenständen verharren. Nicht zuletzt erscheinen die Menschen auch auf der Handlungsebene als Material – neben der Familie der Landarbeiter, die vom Wohlwollen des Gutsherrn abhängig ist, sind es besonders die Kinder, über die verfügt wird wie über Gegenstände. Menschenmaterial, das durch Repression gefügig gemacht wird. Dass die Vernichtung der Kohlköpfe dabei in Gesprächen als beinahe ebenso wichtig erscheint wie die brutalen Vorkommnisse im Dorf, ist eine bitterböse, treffende Pointe.

Nur der Lehrer – der das Geschehen auf der Leinwand als alter Mann aus dem Off kommentiert – scheint auf einer anderen, verständnisvolleren Weise mit den Kindern kommunizieren zu können. Durch seine Jugendlichkeit ist er ihnen auch näher als die anderen Erwachsenen. Allmählich fügen sich seine Beobachtungen zu einem Bild zusammen. Als er seinen Verdacht dem Pastor mitteilt, droht ihm dieser mit einer Anzeige bei der „Lehrkommission“. Es kann nicht sein, was nicht sein darf: die Art der Kindererziehung, die der Pas-tor praktiziert, muss einfach die richtige sein.

Emotionale Distanz und Rigorosität der Formensprache

Eine weitere Gemeinsamkeit mit Bresson ergibt sich aus der emotionalen Distanz, auf der Haneke den Zuschauer hält: Die Schauspieler – bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa Ulrich Tukur oder Josef Bierbichler, unbekannte Gesichter – agieren zurückgenommen, emotionale Regungen sind spärlich. Das Schwarzweiß, das Haneke laut eigener Aussage einsetzte, weil es von der damaligen Zeit eben nur Schwarzweißfotos gibt, tut sein Übriges. Was man dem Film letztlich vorwerfen kann, ist, auch wenn es paradox erscheinen mag, eine zu große Rigorosität der Formensprache – dem Zuseher wird an vielen Stellen bewusst, dass er eine zwar virtuose Inszenierung, aber eben doch eine Inszenierung sieht. Das Gemachte tritt so an manchen Stellen überdeutlich in den Vordergrund. Eine Szene etwa, in der ein Sohn des Pastors die Rute, mit der die Kinder gezüchtigt werden, aus einem Zimmer am Ende des Ganges holen muss, inszeniert Haneke ungeschnitten, mit sparsamen Schwenks und wenigen Worten, ohne dass die Kamera ihren Standpunkt verlässt. Zweimal verharrt die Kamera auch auf dem menschenleeren Gang – einmal, bevor der Junge die Rute holen muss, und einmal danach. Auf der Tür sieht man Blumen-Ornamente. Dann hört man Schläge und Schreie. Für sich genommen ist die Szene virtuos inszeniert, doch tritt die Inszenierung derart überdeutlich ins Bild, dass man das Gefühl hat, eher eine akademische Abhandlung über Gewalt zu beobachten als eine Szene aus einem Film.

Doch weiß Haneke auch zu überraschen, etwa mit einem Gastauftritt Detlev Bucks als Vater der Geliebten des Lehrers, der von einer wunderbar bösen Komik ist, ein glänzendes Miniaturporträt der Kleinbürgerlichkeit.

Parabel über die geistigen Grundlagen des Nationalsozialismus

Letztlich ist kühle Distanz zum Geschehen schon immer eine Eigenart Hanekes gewesen. Auch hier nimmt man am Leben der Filmfiguren – ein sehr großes Ensemble übrigens, allein im Presseheft sind über 60 Charaktere aufgelistet – nicht eigentlich teil, sondern sieht ihnen gleichsam wie Versuchsratten in einem Labor zu. Die Figuren sind ein gesellschaftlicher Querschnitt, an dem Haneke seine Beobachtungen macht. Der große Trumpf des Films sind die jugendlichen Schauspieler, die ausnahmslos eindrucksvoll agieren: eingeschüchtert und scheinbar folgsam, andererseits voll angedeuteter Abgründe. Anders als so viele Kinderschauspieler geht es hier nicht um bloße reaction shots – die jugendlichen Akteure bieten Schauspiel, nicht nur Gesichtsausdrücke. Ihre Leistungen mögen mit ein Grund sein, warum Das weiße Band wohl der bisher zugänglichste Film des Regisseurs ist. Zudem hat Haneke mit der Figur des Lehrers und seiner Geliebten Eva (hervorragend: Leonie Benesch) zwei für seinen Kosmos ungewöhnlich sympathische Charaktere geschaffen, die in ihrer zarten Annäherung als Gegenentwurf zu den anderen, emotional kaputten Bewohnern des Dorfes zu sehen sind.

Schließlich bricht der große Krieg aus – und erscheint hier nicht primär als Folge politischer Vorgänge, sondern als gesellschaftliche Entladung. Dass danach nichts mehr wie vorher war, deutet der Erzähler an. Einige Rezensenten haben, nicht zu Unrecht, darauf hingewiesen, dass der Film auf diese Weise als Parabel über die geistigen Voraussetzungen des Nationalsozialismus zu sehen ist. Gedemütigte, gequälte junge Menschen suchen sich noch Schwächere – wie den behinderten Jungen oder den Vogel des Pastors – aus, an denen sie sich austoben können. Die ideale Voraussetzung für eine Ideologie, die den von der Niederlage des Ersten Weltkriegs Gedemütigten neue Stärke versprach – und mit Minderheiten überaus brutal verfuhr.

Am Ende, so erfahren wir aus dem Off, übernimmt der Lehrer das Schneidergeschäft seines Vaters – der Abschied der vernünftigen Kräfte aus dem Lehrberuf in einer Zeit, die Vernunft so dringend nötig gehabt hätte.