ray Filmmagazin » Drama » Traurig und garstig

Diese Nacht – Traurig und garstig

Traurig und garstig

| Daniel Kothenschulte |

„Einfordern, was zu einem kompletten Bild gehört“: Eine Begegnung mit Werner Schroeter und seinem späten Meisterwerk Diese Nacht.

Werbung

Es kommt nicht oft vor, dass ein neuer Film wie ein unbekannter Klassiker wirkt. Wie ein Werk, das es immer schon gegeben haben müsste und das uns sein Fehlen doch erst im Augenblick seines Erscheinens bewusst macht. Die Sehnsucht nach einem verlorenen Kino, die Werner Schroeters meisterhafter neuer Film Diese Nacht weckt, ist noch lange nicht gestillt, wenn sich die Leinwand wieder geschlossen hat.

Nach der Vorlage von Juan Carlos Onettis 1943 erschienener Erzählung Para esta noche (Für diese Nacht) entwerfen der Regisseur und sein Fotograf Thomas Plenert einen tief farbigen, ebenso grausamen wie liebestrunkenen Totentanz über eine unmögliche Flucht aus einer fiktiven Folterdiktatur. Ein Kriegsheld sucht nach seiner Geliebten, um mit ihr das letzte, rettende Schiff zu erreichen. Die Unterwelt freilich, mit der es dieser gefallene Orpheus zu tun hat, kennt keine Regeln, an die man sich halten könnte. Jeder spioniert gegen jeden. Und doch steckt eine so ungeheure Gier nach Liebe in den menschlichen Schatten, die dieses traumhafte Drama bevölkern, dass selbst die grausamsten Szenen etwas Menschliches besitzen.

Es passiert nicht oft, dass man über einen Film sagen kann, dass es keinen zweiten Film gibt, der ihm gleicht. Die Kino-erinnerungen, die er weckt, gelten weniger konkreten Filmen als einer Zeit, in der Pasolini und Fassbinder, später Derek Jarman eine ähnlich produktive Melancholie erweckten. Vor allem aber natürlich tat dies Werner Schroeter selbst in seinen Filmen, die schon lange eine Wiederentdeckung verdienen.

Gleichermaßen zierlich wie zäh wirkt der Filmemacher, der schon lange schwer krank ist und doch in Deutschland zum Kinostart von Stadt zu Stadt reist, seinen Film vorführt und das Gespräch mit dem Publikum sucht. Mal vor über sechshundert Zuschauern wie in der Berliner Volksbühne, mal vor einem guten Dutzend in Köln. Unermüdlich diskutiert Schroeter dabei vor allem mit jenen, die nur noch naturalistische Kinobilder zu kennen scheinen. Wie erklärt er sich ihr Misstrauen gegenüber diesem offenbar unerwünschten Mehrwert an Kunst? „Traurig und garstig“ mache ihn das, sagt er zu später Stunde im Anschluss an den Kölner Auftritt. „Wer nur seine eigene kleine Welt auf der Leinwand sucht, möchte, dass sie aussieht wie der Arsch von Tante Anna. Das ist furchtbar, das ist einfach eine solche Verbildung!“

Der zentrale Begriff, wenn man über Ihr Werk spricht, ist die Sehnsucht. Vor drei Jahrzehnten sagten Sie in einem Interview etwas, das mir noch immer für Ihre Arbeiten zuzutreffen scheint: „Ich glaube an zwei Sachen, ich glaube daran, dass jeder Mensch den Wunsch hat, in seiner Existenz eine Sehnsucht zu entfalten, dass die Sehnsucht eigentlich der  Wunsch ist; also ein Versuch zu existieren hat bestimmt nichts damit zu tun, dass Leute Fernseher kaufen, Sozialversicherungen abschließen. Ich glaube, der ursprüngliche Wunsch vom Menschen zielt auf ein Lebensgefühl, das Freude beschert oder Vergnügen.“ Würden Sie das auch heute so sehen?
Natürlich, ja. Das ist der Kampf gegen den Materialismus. Ich hatte ja das Glück, dass mein Vater sich entschlossen hat, die DDR zu verlassen – Glück insofern, als ich gesehen habe, wie großzügig jemand sein kann, denn er hat sich alles aufgebaut. Er kam aus armen Verhältnissen, hatte eine Fabrik, schöne Villa, hat alles stehen gelassen und nie ein Wort der Klage. Er war überhaupt kein Materialist, mein Vater. Meine Mutter auch nicht. Das schwäbische „Häuslebaue“ habe ich also nicht im Blut. Der Materialismus ist einfach der Tod der Seele.

Jetzt in der Wirtschaftskrise tun ja viele Politiker plötzlich so, als hätten sie das auch schon immer so gesehen.
Da wird viel gelogen. Ich glaube auch nicht an größere Einsicht. Das sehe ich an der Reaktion auf Diese Nacht: Es gibt viele Leute in Deutschland, die davon geschockt sind. Ich verstehe natürlich überhaupt nicht wieso. Ich kann es aber analysieren. Hier geht es nun wirklich nicht um das, was man so im Alltag besiegen möchte, nämlich die Schulden, möglichst noch ein Auto kaufen und so was. Da ist etwas anderes, das weiter führt. Und da es ihnen zu sinnlich dargestellt ist, kriegen die Leute Angst davon, denken, es sei die Verherrlichung von Mord und Totschlag.

Dieses Gefühl machen Sie in Ihrem Film an der Wirkung einer Stadt fest: An Porto mit seiner verfallenden Schönheit und dem Lebensgefühl. Ich war vor kurzem da und erlebte da eine eigentümliche Mischung: Melancholisch aber nicht traurig …
Ja. Verstehe. Das ist gut: Melancholisch aber nicht traurig. Es ist letztendlich positiv. Eine bestimmte Atmosphäre.

Sehnsucht kann ja auch ein positives Gefühl sein, ein Schwebezustand …
Sie kann sich nicht erfüllen. Schließlich ist es ja Sehnsucht.

Aber wenn man einen Film macht, erfüllt sich doch etwas. Den gibt es ja auch dann noch, wenn das Theater vorbei ist. Bei Ihnen habe ich das Gefühl, Sie würden einzelne Ihrer Filme wie etwas Vergängliches behandeln, das dann für Sie auch nicht mehr existiert.
Ja, bei manchen Sachen ist es so. Deswegen habe ich jetzt die Filme ausgesucht, die restauriert und gezeigt werden sollen, das sind die, die ich noch erträglich finde, und ein paar davon finde ich sehr gut. Diesen Film zum Beispiel finde ich sehr gut. Das war übrigens ein Moment bei diesem Film, ihn zu machen, diese acht Wochen, das hatte schon etwas von Erfüllung für mich. Aber das gilt natürlich immer nur zeitweise. Danach gibt es das berühmte Loch, in das man fällt. Dazu muss man nicht manisch depressiv sein. Aber zwischen Erfüllung und Leere – das muss aber so sein. Ein dauerhafter Glückszustand …

Wie halten Sie das durch, acht Wochen lang nachts zu drehen?
Das war wunderschön. Die Schauspieler waren so da reingezogen, alle fanden das toll. Ich wurde getragen von schönster Energie. Es war großartig.

Ihr Film ist so reich an Bildern, dass er einen Überschuss besitzt, den man heute im Kino kaum noch sieht. Wie schütteln Sie diese Einfälle eigentlich aus dem Ärmel?
Leicht fällt mir das nicht, aber ich bin jemand, der immer sehr schnell arbeitet. Bei mir sind es spontane Geschichten. Die sehen hinterher vielleicht sehr kompliziert aus, waren aber relativ schnell umzusetzen. Mit Thomas Plenert, der ursprünglich gar nicht als Kameramann vorgesehen war und dann über Nacht dazu kam, habe ich sehr viel zusammengearbeitet. Er wartete darauf, dass ich ihm sage, wie er es machen soll. Bis dann die Phantasien sich annäherten, und dann ging es sehr gut. Was mir schwer fällt während der Arbeit, ist, mich zu ernähren. Ich muss genug Energie haben, um so zehn Stunden durchzuhalten. Sonst sackt es in mir weg.

Das sagten Sie auch schon vor 30 Jahren, dass Sie zu wenig essen und zu viel trinken würden.
Das ist vorbei. Ich trinke praktisch keinen Alkohol mehr. Damals habe ich schön viel getrunken. Herrlich. Und gekokst. Das ist auch schon vorbei. Mit Koks habe ich aufgehört 1977.

Als Fassbinder starb, dachten Sie nicht, Sie seien der Nächste?
So extrem wie bei Fassbinder war das bei mir dann auch nicht. Ich bin von Natur ein Nachtmensch. Ich habe schon in der Pubertät die Nächte durchgelesen, bin in die Schule getaumelt. Die Nacht hat für mich einen wirklichen und einen unwirklichen Zauber. Der wirkliche Zauber ist, dass ich lebe. Und der Unwirkliche ist, dass ich allein sein darf und alles schläft und es ist so eine Ruhe um mich. Das ist schön. So eine Ruhe.

Es gibt in Ihren frühen Filmen diese Mischung aus privater und öffentlicher Ästhetik, die später in der Kunst sehr wichtig geworden ist: Man schafft sich eine private Welt, die nach der großen Welt des Kinos oder der Oper greift, und aus dem Zwiespalt, dem Unvermögen, diesem gerecht zu werden, entsteht eine eigene, einzigartige Welt. Ein selbstgemachtes Kino von einer eigenen Wahrheit. Nicht anders als bei Jack Smith zum Beispiel. Heute können Sie dagegen alles, macht das einen Unterschied?
Das ist wahr. Sie haben es so schön beschrieben. Kann ich nichts hinzufügen. Ich empfinde es ähnlich.

Die deutsche Synchronfassung von Nuit de chien haben Sie selbst inszeniert. Sie erinnert mich an Ihre früheren Filme: Dass da nicht immer alles synchron sein muss und die Trennung zwischen Ton und Bild spürbar bleibt.
Das darf auch nicht sein, dass nur wegen des „lipsync“ der Inhalt zerstört wird und der Ausdruck. Das darf nicht sein. Die Trennung aus Bild und Ton bleibt bestehen.

Eisenstein nannte das die kontrapunktische Bild-Ton-Montage. Hatten Sie ihn gelesen?
Gelesen nicht. Aber einen Film habe ich sehr geliebt, Alexander Newski. Und die Elemente von Que Viva Mexiko.

Arbeiten Sie jetzt an der Restaurierung Ihrer alten Filme mit?
Ich wollte nicht, aber im Nederlands Filmmuseum möchte man, dass ich zeitweise helfe. Bei den frühen Filmen, bei Der Bomberpilot, Der Tod der Maria Malibran, Eika Katappa, und Willow Springs, hatte ich wegen der Farben, Tiefenschärfen und aus anderen Gründen verschiedene Empfindlichkeiten benutzt und verschiedene Emulsionen kombiniert, Umkehrfilm hauptsächlich. Das war aufeinander geklebt, wie man es halt macht beim professionellen Filmschnitt. Und nun altern all diese Materialien unterschiedlich, jede Emulsion hat einen anderen Säuregehalt. Um die Farben originalgetreu hinzukriegen, brauchen sie meine Hilfe in Amsterdam; dafür bin ich sehr dankbar.

In Oberhausen habe ich vor Jahren Ihre frühen Super-8-Filme gesehen. Sie schienen nicht sehr begeistert …
Das war gegen meinen Willen. Das wollte der Monsieur Gass unbedingt. Aber ich fand das zu privatistisch. Dazu muss man sagen, sie waren nur dafür gemacht, im Familienkreis vorgeführt zu werden. Einmal in der Woche habe ich die Familie versammelt. Dann schön alles aufgebaut, guten Verstärker, Leuchtwärme, einen Projektor, Silberleinwand. Dafür war es ja gedacht, aber es war nie daran gedacht, sie zu veröffentlichen. Als sie dann doch in München in einem Kino liefen, war es natürlich ein Kompliment. 1968 erschien die erste Filmkritik über mich. Wilhelm Roth hieß der Mann, der es entdeckt hat. Aber das sind tempi passati. Ich schäme mich auch nicht deswegen. Im Gegenteil, finde ja toll, dass jemand diese 8-mm-Dinge anguckt. Aber ich finde es nicht wesentlich.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihre Filme in Deutschland schlechter verstanden werden als anderswo?
Ich glaube, dass man sich in Frankreich am stärksten in meinem Sinne damit beschäftigt. In Deutschland gibt es allerdings eine Minderheit, die meine Sachen wunderbar versteht.

In Ihren Filmen mischen sich Beobachtetes, Erfundenes, Phantastisches und Dokumentarisches. Das ist zwar eigentlich einmal im frühen Kino ganz selbstverständlich gewesen, wirkt heute aber fast exotisch. Sie haben in Palermo oder Wolfsburg eine soziale Wahrheit gefunden, die auch eine poetische Wahrheit ist.
Es ist ja interessant: Fassbinder fand ja diese Sachen immer toll, fühlte sich bemüßigt, mich zu verteidigen gegen andere, schrieb offene Briefe, Artikel. Was ich richtig fand. Das hat er wunderbar gemacht. Er hat mich angerufen, damals war ich in Rom. Er fragte, ob mir das recht wäre und las es mir vor. Der mochte Regno di Napoli so gerne. Und Willow Springs. Das waren seine Lieblingsfilme. Willow Springs mag ich heute auch noch. Sie wissen ja, wie der entstanden ist?

Das würde ich gerne von Ihnen hören.
Bewaffnet mit dem wenigen Geld, das man beim Fernsehen für so einen „Kamerafilm“ bekam, bewaffnet mit Magdalena Montezuma, Christine Kaufmann und Ila von Hasberg flog ich nach L.A. Eigentlich, um für Christine die Kinder von Tony Curtis zurück zu entführen, die er vorher entführt hatte, im Sommer 1973. Vom ZDF hatte ich mir einen Auftrag ergaunert, einen Film zu meiner Phantasmagorie zu machen unter dem Titel „Der Traum der Monroe“ oder so ähnlich. Es wurde beschrieben als eine Strukturuntersuchung von Warhols Porträts der MM und ihrer Affinität zur Musik von Elvis Presley. Und dann kam ich in L.A. an und habe überlegt, was könnten wir machen? Das Geld wurde immer weniger. 85.000 Mark. Bis zur Endkopie für die Sendung. Dann habe ich zwei Unholde engagiert, die Story geschrieben und in 14 Tagen gedreht. Unter wahnsinnigen Umständen. Geschnitten wurde Willow Springs in Wiesbaden. Dann hatten wir Arbeitsabnahmevorführung: Schwarz-weiß-Kopie, da saßen die Redakteure. Und es ging los. Die waren platt, vom Donner gerührt. Und sagten, sie wissen nicht, wie sie es vertreten sollen. Für den nächsten Tag wurde der Programmdirektor geholt und ich bin aufgetaucht mit einer Flasche Cognac, um gute Stimmung zu machen. Und als ich den Film auf der Leinwand vorgeführt hatte, sagte der nur: „Das ist ja ein Meisterwerk! Was haben bloß die Redakteure? Wir danken Ihnen für diesen brillanten Film!“ Also, wie die geguckt haben, das war wirklich witzig. „Der Traum der Marilyn Monroe“ kam dann als Willow Springs heraus. Bei der Premiere in der Pariser Cinemathek sah ihn dann Fassbinder und mochte ihn sehr. Als ich erzählte, wie er entstand, sagte ein italienischer Kritiker: „Herr Schroeter, Sie haben Quadrateier.“

Und haben Sie nun die Kinder von Tony Curtis entführt?
Ja, wir haben sie wieder gekriegt. Aber nicht zu dem Zeitpunkt. Sie waren sehr verstört, irgendwie brain-washed. Sie sprachen auf einmal kein Deutsch mehr.

Was fand Christine Kaufmann eigentlich an Curtis?
Das war die Befreiung für Christine von der Mutter. Mit 16, 17 war es ein Befreiungsschlag. Volljährige Amerikanerin. Man konnte sie nicht mehr manipulieren. Und sie hatte ihn wirklich geliebt. 16 Jahre Unterschied. Das war ein schönes Paar.

Was für eine Geschichte. Aber warum beklagen sich die Zuschauer – wir haben es gerade bei der Vorführung in Köln erlebt –, wenn im Film etwas Irreales passiert? Warum gibt es ein Misstrauen gegen narrative Bilder?
Weil immer noch gedacht wird, dass der Film wie ein Fernsehspiel eine platte Wirklichkeit abbilden soll. Es stimmt nicht! Das hat mit Film und Kunst nichts zu tun, diese Vorstellung. Das ist Verblödung. Verbildung! Ich gebe mal ein Beispiel: Das ist, wie wenn man die homosexuellen Männer verdächtigt, dass sie immer sich selber suchen im Anderen wie der Narziss sein Spiegelbild. Das ist Quatsch. Der Intelligente und Homosexuelle sucht grade den anderen Menschen. Das Andere ist schön. Wer dagegen nur seine eigene kleine Welt auf der Leinwand sucht, möchte, dass sie aussieht wie der Arsch von Tante Anna. Das ist furchtbar, das macht mich nicht wütend, das macht mich traurig und garstig. Das ist einfach eine solche Verbildung. Das ist so traurig, dass man heulen könnte. Dabei ist ja Poesie einfach das Gegenteil von Logik. Dieser Film hat eine lineare Struktur, bloß passieren so viele geheimnisvolle Dinge, die nur angetippt werden, dass es wie auf einem Erdbebenteppich stattfindet.  Und poetische Dinge, wie ein Mädchen, das nach seinen Eltern ruft: Was ist daran falsch? In welcher Welt leben wir denn, dass sie keine Augen hat für das Schöne und für Poesie?

Warum verlieren die Menschen aus Ihrer Sicht die Neugier?
Ich weiß nicht, woher das kommt. Warum gehe ich aus dem Haus, warum gehe ich ins Kino, wenn ich nicht das Andere sehen will? Dann könnte man sich ja vor einen Spiegel setzen.

Kann es sein, dass heutige Kinozuschauer dort nicht mehr wie früher nach Kunst suchen? Ich habe das Gefühl, dass sich der Bereich künstlerischer Bewegtbilder eher in die Museen verlagert. Treffen Sie dort vielleicht eher auf ein sensibilisiertes Publikum?
Ja, sicher. Das war deutlich bei der Ausstellung meiner Fotos in München. Eine völlig andere Sehweise. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schrieb eine Frau ganz unbefangen darüber. Unbefangen ist wichtig. Ein offenerer Horizont. Aber ich kann es auch nicht beschwören.

Der experimentelle Film wird ja von der Filmöffentlichkeit kaum noch beachtet.
Ja, leider Gottes. Schon Ende der Sechziger Jahre setzten sich Sponsoren ab von dem wirklich tollen Festival für Experimentalfilme in Knokke. Das war die Inspirationsquelle Nummer eins für uns alle. Da habe ich Rosa von Praunheim getroffen, an Weihnachten 67. Das war das letzte Festival da, und es war so reich und toll, was man da sehen konnte. Das ist schon eine Tür, die sich mit etwas verjauchtem Wind immer mehr schließt. Als ob ein dröhnender Furz sie langsam zuschiebt, diese Öffnung. Aber die Menschen wehren sich nicht. Weil sie in den Familien nicht lernen, sich zu wehren. Sich sinnvoll zu wehren. Nicht zu pöbeln und zu revoltieren. Das einzufordern, was zu einem kompletten Bild gehört. Das fängt aber in der Familie an. Ein Knotenpunkt des Grausens im negativen Fall. Nehmen Sie den Fritzl in Österreich, wo die Familie ohne jeden Zweifel gewusst haben muss, was der so treibt. Auf engstem Raum. Es ist genauso wie in den Familien, wenn Kinder missbraucht werden. Die Ehefrauen wissen es immer. Es kommt doch jedes Mal raus, dass sie es gewusst haben. Zwanzig Jahre lang hat das niemand gewusst? So doof kann niemand sein. Auf engstem Raum. Oder jetzt dieser Amoklauf.

Die Tragödie von Winnenden …
Der Vater hatte Gewehre, Pistolen, Munition im Haus: Wie soll sich da ein kranker Junge anders orientieren als in eigenen Todesphantasien? Was fällt diesen Leuten denn ein? Dem Kind so was anzutun? Eine solche Umgebung zu bieten? Einem sowieso verstörten jungen Mann. Es ist mir rätselhaft, wie viel Blödheit ich noch schlucken soll. Und die Leute glauben, niemand hat etwas gewusst. Lebe ich in einer Welt von taubstummen blinden Irren?

Ich las, man habe dort einen Gedenkgottesdienst abgehalten und den sechzehnten Toten ausgeklammert, den Täter …
Das ist doch ein Verrat am christlichen Gedanken! Ja. Das hat Jesus Christus nicht gewollt, soweit ich es einschätzen kann in meiner Phantasie.

Sie sind seit langem schwer krank. Hat sich denn auch Ihr Verhältnis zum Tod, der immer so gegenwärtig ist in Ihrem Werk, über die Jahre geändert?
Nein. Das hat sich bei mir nicht geändert. Angst hatte ich nie davor. Es hat sich etwas in einem angstlosen Raum verflüch-tigt. Für mich ist diese Gegebenheit, der Anfang, die Bewegung, das Ende, derart in der Natur des Seins angelegt. Es wurde mir klar mit der Erfahrung der Militärdiktatur in Argentinien. Je mehr mir klar wurde, dass Angst das größte Machtmittel ist zur Unterdrückung der Menschen und zum Verrat an anderen Menschen, ist sie mir selbst einfach abhanden gekommen. Ich finde, Angst kann man sich nicht leisten, es ist die Aufgabe der Freiheit. Zumindest muss man daran arbeiten, dass sie weg geht. Man muss sich mit ihr auseinandersetzen statt unter ihr zu leiden. Natürlich verstehe ich, wenn ein Moment Angst hervorruft. In einer Stadt wie Berlin höre ich schon aus der Entfernung Prolls, die sich hoch gesoffen haben. Die brauchen jemanden wie mich bloß zu sehen, um loszuschlagen. Dazu habe ich keine Lust. Ich wechsle die Straße. So etwas spüre ich einfach in der Luft. Deswegen ist mir nie was passiert in dieser Hinsicht, obwohl ich überall hingehe. Ich reagiere sensibel darauf und vermeide es. Ich mag mich nicht von einem im Grunde harmlosen, aber völlig falsch entgrenzten Deppen totschlagen lassen. Warum denn? Das ist aber keine Angst, das ist Überlebenswille. Das ist das Gegenteil von Angst. Ich will leben. Und ich lebe sehr gern. Wenn es verträglich ist, was Schmerzen anbelangt.