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Österreich – Leben in Ausnahmesituationen

Leben in Ausnahmesituationen

| Walter Gasperi |

Einblicke in Lebenswelten und Befindlichkeiten, die dem Durchschnittsbürger zumeist wenig vertraut sind, bieten drei aktuelle österreichische Dokumentarfilme. Während Kenan Kiliç in Gurbet – in der Fremde die Geschichte der „Gastarbeiter“ nachzeichnet, beleuchtet Nina Kusturica in Little Alien die Situation „unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge“. Sabine Derflinger schließlich porträtiert in Eine von 8 zwei Frauen, die an Brustkrebs erkrankt sind.

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Vor 45 Jahren hat man begonnen, Menschen aus der Türkei als billige Arbeitskräfte nach Österreich zu holen. „Gastarbeiter“ wurden sie genannt und Gäste blieben sie für viele Österreicher, für manche Gruppierungen inzwischen sogar äußerst lästige. „Verrückt“ nennt einer der Protagonisten von Kenan Kiliçs einfühlsamem Dokumentarfilm Gurbet – in der Fremde diese Bezeichnung, denn Gast könne man drei oder vielleicht zehn Tage, aber keinesfalls 40 Jahre sein. Den Fokus ganz auf diese Migranten der ersten Generation richtet der 1962 in der Türkei geborene und seit 1981 in Wien lebende Regisseur. Nur sie kommen zu Wort und Kiliçlässt sie, auf eigenen Kommentar konsequent verzichtend, vor vorwiegend statischer Kamera ruhig von ihren Erfahrungen und Empfindungen erzählen.

Das Einzelschicksal mag angesichts von neun Porträtierten bruchstückhaft bleiben, andererseits ermöglicht die große Zahl an Protagonisten eine Bandbreite, die von der Witwe, die ihre Kinder allein erziehen musste, über den Fabrikarbeiter und den Taxifahrer bis zum erfolgreichen Besitzer eines Reisebüros reicht. Der abstrakte Begriff „Gastarbeiter“ bekommt hier ein menschliches Gesicht und aus dem Persönlichen entwickelt sich ein bewegendes, exemplarisches Bild dessen, was sich hinter dem Begriff verbirgt, welche Befindlichkeit, welche Ängste und Sorgen, welche alltäglichen Schwierigkeiten und Probleme damit verbunden waren und teilweise immer noch sind.

In sorgfältigem Aufbau und geschickter Einbettung von schwarzweißen Archivbildern, die nicht nur über den Bildinhalt, sondern auch in ihrer Grobkörnigkeit und den Grautönen viel von den schwierigen, vielfach menschenunwürdigen Wohn- und Arbeitsbedingungen dieser Menschen in den 1970er und 80er Jahren erzählen, zeichnet Kiliç die Geschichte der Gastarbeiter von ihren Anfängen bis zur Gegenwart nach. Andere, die schon in Europa arbeiteten, haben mit einem klapprigen Opel durch die türkischen Heimatdörfer fahrend, Träume bei ihnen geweckt, sie nach Europa gelockt. Nur einige Jahre wollten sie in der Regel bleiben, und sind dann doch nicht mehr in die Türkei zurückgekehrt.

Verbessert hat sich im Lauf der Jahrzehnte einiges. Deutschkurse, soziale und religiöse Angebote fehlten in den ersten Jahrzehnten völlig. Unvorstellbar war es vor 40 Jahren auch, dass der Nationalratspräsident die Feierlichkeiten zu Ehren des Geburtstags Mohammeds eröffnet wie 2006 Andreas Khol, gleichzeitig zeigt Kiliç im Blick auf den ausländerfeindlichen FPÖ-Wahlkampf auch negative Entwicklungen.

So ist nicht nur ein in seiner menschlichen Komponente überaus bewegender und vielschichtiger Film, sondern auch ein Dokument entstanden, das ein wichtiges, aber bislang kaum beachtetes Kapitel Zeitgeschichte einerseits einem größeren Publikum näher bringen kann und es andererseits für die Zukunft festhält.

Wie Kiliç dabei den Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart schlägt, so auch von Österreich zur Türkei, wenn er die vor Jahrzehnten Emigrierten mit der Kamera in die einstige Heimat begleitet. Dann fühlt man, wie zerrissen und heimatlos, „auf einer schnurlosen Schaukel zwischen zwei Welten“, diese Menschen sind, die in der Türkei als „Deutschländer“ und in Österreich als „Ausländer“ angesehen werden. Gleichzeitig zeigt der Film aber auch, was die Migration für die in der Türkei zurückgebliebenen Familienmitglieder bedeutete, wenn diese unter Tränen von der schmerzhaften Erfahrung berichten, vaterlos aufgewachsen zu sein.

Normalität in der Ausnahmesituation

Wie Gurbet sich über individuelle Biografien und Schicksale dem Begriff „Gastarbeiter“ nähert, so begibt sich auch Nina Kusturica in Little Alien auf Augenhöhe mit „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“. Dem Blick der Videoüberwachungskamera an der slowakisch-ukrainischen Grenze, die am Beginn des Films Flüchtlinge auf schemenhafte graue Punkte reduziert und sie zu Versuchskaninchen der Grenzbeamten macht, stellt die 1975 in Mostar geborene Regisseurin (die 1992 bei Ausbruch des Bosnienkriegs selbst mit ihren Eltern als Flüchtling nach Österreich kam) die von Empathie getragene teilnehmende Beobachtung von mehreren Jugendlichen, denen die Flucht bis Österreich gelungen ist, gegenüber.

Die „Aliens“ – so der kalte, ja verächtliche offizielle Terminus technicus der Behörden –  werden so zu Menschen, deren Schicksal bewegt. Wie Kiliç verzichtet auch Kusturica auf jeden Kommentar und beschränkt sich darauf, unabhängig voneinander zwei junge Somalierinnen und zwei Afghanen, die auf die Bearbeitung ihres Asylantrags warten, mit der Kamera zu begleiten. Ausgeblendet bleiben dabei aufgrund des Drehverbots das Leben im Flüchtlingslager Traiskirchen und die Gespräche mit den Behörden. In den Mittelpunkt rückt dafür das Alltägliche: die Auswahl von Kleidern in einem Caritas-Kleiderlager, eine Geburtstagsfeier, das Rauchen einer Wasserpfeife in einem Lokal, Gespräche über Schönheitsoperationen, Jungs und Mädchen bis hin zu einer ausgelassenen Schneeballschlacht in alpinem Gelände.

Auch in der Ausnahmesituation eines Flüchtlingsschicksals, dessen Tragik etwa in der Kopfschussverletzung der jungen Somalierin Asha oder in der traumatischen Erinnerung Achmads an seine Flucht mit dem Boot nach Lampedusa, die er als einziger überlebte, anklingt, geht das Leben irgendwie normal weiter. Trotz der wie ein Damoklesschwert über ihnen hängenden Entscheidung über ihren Asylantrag bleiben die Protagonisten Jugendliche mit ganz normalen Sehnsüchten und Wünschen.

Die Abfolge der Szenen mag unkoordiniert wirken, doch macht gerade dieser sprunghafte Aufbau die Zerrissenheit und Unsicherheit der ungemein natürlich agierenden Jugendlichen erfahrbar. Über Jahre hinweg hängen sie nämlich in der Luft, bange hoffend und wartend, dass ihnen der Status „Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“, den 2008 in Österreich 872 Menschen beantragten, gewährt wird, dass sie die „weiße Karte“ erhalten, die zum Aufenthalt bis zum Abschluss des Asylantrags berechtigt, und dass der Asylantrag positiv abgeschlossen wird. Und schlaglichtartig blickt Kusturica von diesen Szenen in Wien aus immer wieder an die Grenzen Europas, zu jugendlichen Flüchtlingen im griechischen Patras und an der nordafrikanischen Küste, wo Teenager in notdürftigen Unterschlüpfen oder auf den Straßen leben und von der Polizei gejagt werden. Ihr Ziel ist Europa, mit Booten oder in LKW versteckt versuchen sie nach Italien oder Spanien zu kommen, doch nicht nur die Behörden, sondern auch ein sechs Meter hoher, EU-finanzierter Stacheldrahtzaun um die in Nordafrika gelegenen spanischen Enklaven Ceuta und Melilla hindert sie daran.

Und gelingt einmal die Flucht von Griechenland nach Italien, so müssen sie damit rechnen, wenig später wieder von den Behörden zurückgeschickt zu werden. So weitet sich Little Alien von der unaufgeregten Schilderung des Alltags jugendlicher Flüchtlinge in Österreich zum Bild eines reichen Kontinents, der sich wie eine Festung ohne Rücksicht auf menschliches Leid nach außen abschottet.

Leben mit Brustkrebs

In einer Ausnahmesituation leben auch die zwei Frauen, die Sabine Derflinger in den Mittelpunkt ihres Dokumentarfilms Eine von 8 stellt. Wie jede achte österreichische Frau sind die Schauspielerin Frederike von Stechow und die Straßenbahnfahrerin Marijana Gavrič an Brustkrebs erkrankt. Über die Krankheit haben sie sich kennen gelernt, gemeinsam mit der Regisseurin haben sie den Film entwickelt. Wackelige Handkameraaufnahmen, in denen die Protagonistinnen ihre Wohnung, den Gang zur Klinik, ein Grillfest oder eine Fahrt in den Urlaub filmen und so ihre persönlichen Empfindungen zum Ausdruck bringen, stehen ruhig gefilmten Gesprächen mit Ärzten, mit den Familienangehörigen oder Szenen von der Arbeit gegenüber.

Auch Derflinger verzichtet auf jeden Kommentar, lässt die Frauen aber auch immer wieder direkt in die Kamera über die Entdeckung ihrer Krankheit, die Reaktion auf die Diagnose, aber auch über die Leidenschaft für ihren Beruf sprechen. Nicht die Krankengeschichte und der medizinische Aspekt stehen im Mittelpunkt von Eine von 8, sondern die Befindlichkeit der beiden Frauen, ihr Hoffen und Bangen, ihre Sehnsüchte und Ängste, ihre Unsicherheit und ihr Kampf. Hier wird nicht viel hinterfragt und reflektiert, es geht einfach darum, einen Einblick in das alltägliche Leben mit der Krankheit zu geben.

Ein bewegender Film, nah an den Porträtierten, der einerseits gerade durch deren Mitgestaltung der Gefahr des Voyeurismus entgeht, andererseits durch deren Ehrlichkeit und Offenheit authentisch wirkt, ohne ins Weinerliche abzugleiten. Der Ton bleibt nüchtern und trotz des schweren Themas strahlt Eine von 8 immer wieder Lebensfreude aus. Frederike von Stechow und Marijana Gavrič werden einem im Lauf des Films zu guten Bekannten; auch die letzten Bilder und die ersten Inserts des Nachspanns verbreiten positive Stimmung. Umso nachhaltiger stellt sich allerdings der Schock ein, den eine letzte, erst nach Fertigstellung des Films eingefügte Texttafel auslöst.