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La Pivellina – Ein Gespräch mit Tizza Covi und Rainer Frimmel

Hier ist ein Mensch

| Roman Scheiber |

Tizza Covi und Rainer Frimmel öffnen die Augen für den Alltag von Außenseitern. Nuancierte Beobachtungen des Beiläufigen, sachte um eine fiktionale Findelkindgeschichte herum geordnet, ergeben in La Pivellina humanistisches Kino im besten Sinn. Ein Gespräch über die Arbeit am Wesentlichen.

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Sie kommt aus Bozen, er ist Wiener mit Südtiroler Wurzeln. Beide sind Jahrgang 1971, beide kommen von der künstlerischen Fotografie her, zusammen haben sie 2002 die Produktionsfirma Vento gegründet, zusammen machen sie ihre Filme. Mittlerweile stehen Tizza Covi und Rainer Frimmel für ein ökonomisch unaufwändiges, eigenwilliges, sozialrealistisches Kino mit Fokus auf die Besonderheiten des Beiläufigen und auf das Wesentliche im Randständigen.

La Pivellina ist der dritte gemeinsame Langfilm des Paars, er ist dem Vorgängerfilm Babooska (2005) thematisch und personell verwandt. War Babooska das unaufgeregte, dokumentarische Porträt einer Wanderzirkusfamilie, so sind bei La Pivellina die Zirkusartisten zu sesshaften Laiendarstellern geworden: Das Ehepaar Patrizia („Patti“) Gerardi und Walter Saabel, den Filmemachern seit 15 Jahren persönlich bekannt, lebt zusammen mit dem jungen Scheidungswaisen Tairo in einer Wohnwagensiedlung in San Basilio, einem Außenbezirk Roms. Das Leben dieses Trios im verregneten römischen Winter verdichten Covi und Frimmel durch ein fiktionales Element — auf einem Spielplatz findet Patti ein zweijähriges ausgesetztes Mädchen, eben „La Pivellina“. Gegen die Bedenken ihres Gatten beschließt Patti, die Kleine in der Familie aufzunehmen und sich um sie zu kümmern.

Unter widrigsten Bedingungen, mit minimalem Budget ausgestattet, gelingt es dem Zweierteam mit viel Geduld und einer bezaubernden Titelheldin, eine glaubwürdige, einfache und doch nuancierte Geschichte mit berührenden Momenten zu erzählen. Eine Geschichte vom Menschsein.

Wünscht ihr euch ein bestimmtes Publikum für euren Film? Soll ihn eher ein Manager anschauen oder eine Krankenschwester, eher ein Österreicher oder eine Italienierin?
Rainer Frimmel: Jeder, vom kleinen Kind bis zum Manager. Ich glaube, jeder kann für sich etwas daraus entdecken. Wir versuchen nicht auf ein bestimmtes Publikum abzuzielen, so arbeiten wir nicht. Ich glaube aber, dass gerade Leute, die solche Filme nicht gewohnt sind, dann oft sehr positiv überrascht sind.
Tizza Covi: Gleichzeitig muss man sagen, dass ein Film jetzt auch nicht großartig etwas verändern kann. So realistisch sind wir schon, dass wir nicht sagen, es wäre gut, wenn sich das jetzt die oder die Art von Leuten anschaut. Man darf das nicht überbewerten.

Wie ist es euch beim Festival in Cannes ergangen, wo ihr den Film im Rahmen der Quinzaine des Réalisateurs erstmals vorgestellt habt?
Covi: Wir haben erst Ende April erfahren, dass der Film dort laufen wird, und so kurzfristig war es unmöglich, eine günstige Unterkunft zu finden. Da haben wir ganz in der Nähe zwei Wohnmobile ausgeborgt und dann am Campingplatz gewohnt. Das war sehr lustig, diese Diskrepanz zwischen Zähneputzen mit den Pensionisten im Camping, dann mit den Flip-Flops über den Matsch im Camping raus, die Stöckelschuhe an, rein in den Bus und dann auf die Croisette. Das hat dieses überkandidelte Drumherum von Cannes hübsch relativiert.
Frimmel: Für uns war es sehr wichtig, dass die Schauspieler dort waren und dass sie ihren gebührenden Applaus und Respekt bekommen haben, das war sehr schön. Es war aber auch aufreibend alles, weil wir dort das erste Mal den Film mit einem Publikum gesehen haben. Die Stromwerke haben gestreikt zu der Zeit in Cannes. Während unserer Vorführung war Streik, das heißt, für kurze Zeit ist der Strom komplett ausgefallen — da haben wir schon gelitten.

Welche Erlebnisse sind euch von den Besuchen kleinerer Festivals in Erinnerung?
Frimmel: Mein schönstes Festivalerlebnis war in Armenien. In Eriwan gehen so gut wie nur Frauen ins Kino. Nach der Vorführung bin ich durch die Stadt spaziert, und da hat mich ein altes russisches Mütterchen angesprochen und mir gesagt, wie gut ihr der Film gefallen hat, und dann wollte sie noch vieles über den Film wissen. 
Covi: Egal, wo wir hingekommen sind, haben die Leute uns immer wieder gefragt, wie die Geschichte denn nun ausgeht. Das Publikum wird mit dem offenen Ende nicht fertig. Mir geht das im Kino auf die Nerven, wenn ich immer weiß, was passieren wird oder wenn ich mit einer totalen Gewissheit entlassen werde. Das interessiert mich weder in der Literatur noch im Film, und schon gar nicht in der eigenen Arbeit — dass ich sage, jetzt könnt ihr traurig sein oder jetzt könnt ihr lustig sein. Das Publikum soll schon auch ein wenig gefordert sein.

Eine Frage, die sich im Übergang von eurem vorherigen Film Babooska zu diesem stellt: Wo endet das Dokumentarische, wo beginnt das Fiktionale?
Covi: Das Dokumentarische ist als Element sehr stark vorhanden. Dadurch, dass wir vier Hauptdarsteller und Hauptdarstellerinnen gehabt und gewusst haben, wir filmen sie in ihrem Umfeld und sie haben ihre Namen, und es sind teilweise auch ihre Geschichten. Wir haben das Drehbuch für sie geschrieben, damit sie sich auch wohl fühlen in diesem ganzen Konzept.
Frimmel: Und natürlich gab es keine geschriebenen Dialoge. Im Grunde ist es ja auch schon dokumentarisch, zu improvisieren, weil das oft echten Situationen entspricht und man dann auch wirklich so reagieren würde.
Covi: Ganz wichtig bei uns ist auch: Es gibt kein Casting. Wir casten nicht monatelang, welches Kind wir nehmen, wir nehmen das, das vor Ort ist. Oder wenn wir zwei Polizisten brauchen, fragen wir gleich die Patti, ob sie einen Polizisten kennt, und dann rufen wir den an und fragen, ob er einen zweiten mitnimmt, und die spielen das. Das ist für uns ganz fundamental und auch sehr dokumentarisch, dass man nimmt, wer zur Verfügung steht und schaut, ob es funktioniert.

Das heißt, das improvisatorische Element ist der Arbeit von Anfang an eingeschrieben.
Fimmel: Absolut. Es kann natürlich schwierig oder riskant sein, dass sich dann nichts ergibt. Das sind ja alles echte Geschichten, die erzählt werden, da verschwimmen die Grenzen zum Dokumentarfilm.
Covi: Wir haben ein Riesenproblem gehabt, weil wir noch dokumentarischer sein wollten. Im Schnitt haben wir dann gemerkt, wir haben ganz schöne Sachen gefilmt, wie sie leben, was sie tun, was sie denken, was sie miteinander reden – aber das hat nicht funktioniert, wir haben bei der Geschichte bleiben müssen.
Frimmel: Alle dokumentarischen Teile, die zu weit von der Kleinen weggeführt haben, die haben wir dann eigentlich weggelassen.

Außer ein paar politische Exkurse, die sind dann doch drin geblieben: Eine Geschichtslektion für Tairo, der Ausflug ins Wachsfigurenkabinett.
Frimmel: Genau, gerade diese Sequenz fällt ein bisschen heraus, aber die wollten wir unbedingt drinnen haben.
Covi: Uns ist das sehr wichtig, wir wollen schon ganz lange einen Dokumentarfilm über den Faschismus in Italien machen. Es gibt ganz interessante Orte südlich von Rom, in den latinischen Sümpfen, wo die Erinnerung an Mussolini hoch gehalten wird. Die faschistische Hymne als Klingelton am Handy zu haben, ist dort zum Beispiel ein Kavaliersdelikt, das finde ich ganz ungeheuerlich.

Ist der Neorealismo ein dezidierter historischer Bezugspunkt für eure Arbeit?
Covi: Absolut. Das spielt für uns ganz eine große Rolle. Die Neorealisten haben mit Laiendarstellern auf Originalschauplätzen gedreht, und ihre Filme zeugen für mich von einer ungeheuren Überzeugungskraft. 
Frimmel: Sie haben zwar mit Laiendarstellern gearbeitet, aber dabei doch recht aufwändige Filme gemacht. Es war ja auch eine andere Zeit, es waren andere Kameras und nicht alles so flexibel. Aber die Geschichten und die Laiendarsteller an Originalschauplätzen – das hat uns sehr beeindruckt.

Was würdet ihr denn als das Wesentliche eurer Filme bezeichnen?
Covi: Die Menschlichkeit. Wir wollen den Leuten, die wir zeigen, eine Würde und einen Respekt zurückgeben, den sie in Italien zum Beispiel durch bösartige Zeitungsartikel verlieren. Wenn ich die Zeitungen lese, könnte ich den ganzen Tag nur kotzen. Auf die Brutalität und die Kriege und diese Sachen, die die Welt bewegen und immer bewegen werden, auf die gibt man ohnehin Acht. Aber dass es da eben in kleinen Nuancen auch was anderes gibt, das interessiert mich. Ich will alltägliche Dinge zeigen, von denen man zu wissen glaubt, wie sie ablaufen, aber sie aus einer anderen Perspektive zeigen. Kleine Nuancen sollen im Idealfall bei uns eine Stärke bekommen.
Frimmel: Mir geht es vor allem darum, die Charaktere selber, die Leute mit denen wir arbeiten, zu zeigen – in ihrem Menschlichen und in ihrer Ambivalenz.

Zugespitzt gefragt: Ist euer Bild vom Menschen ein Kontrapunkt zu einem Menschenbild, das ein Ulrich Seidl in seinen Filmen zeigt?
Covi: Sicher.
Frimmel: Wir haben immer wieder Konflikte, weil mich interessieren schon auch die dunklen Seiten des Menschen und am meisten eben die Ambivalenz von Menschen, also beide Seiten.
Covi: Wir arbeiten auch deswegen zusammen, weil wir total unterschiedliche Ansichten haben, sonst bräuchten wir ja nicht zusammen zu arbeiten. Das ist dann wirklich ein Gemeinschaftswerk, weil da müssen wir uns durchraufen. Bei uns ist es nicht so wie bei manchen Leuten, die einander blind verstehen bei der Arbeit, sondern eher das Gegenteil. Unser Film ist dann halt das Halbe vom Rainer und das Halbe von mir sozusagen. Wäre jeder für sich allein, würde man die Filme teilweise schon sehr anders machen.

Und wie sieht die Arbeitsaufteilung aus?
Covi: Ich mach den Ton, schlag die Klappe, schau, dass die Anschlüsse passen, und sag den Leuten, was sie tun müssen – mehr kann ich nicht. Der Rainer hat die Kamera, geht dann die Filme wechseln und die Belichtung messen. Regie machen wir gemeinsam, das heißt, wir sind voll ausgelastet. Wir versuchen trotzdem immer, unsere Anforderungen nach oben zu schrauben, aber es gibt eben ein Maximum, das man zu zweit am Set erreichen kann.
Frimmel: Tizza macht den Schnitt, sie kann auch viel besser Sachen wegschmeißen als ich. Logischerweise versuchen wir, das Beste rauszuholen, und dann leiden wir natürlich, wenn die Postproduktion nicht so hinhaut, oder die Kopie nicht so schön wird – aber Film ist halt in gewissem Maß auch unberechenbar.

Rainer, die Kamera ist im Vergleich zu euren vorherigen Filmen viel in Bewegung. Warum?
Frimmel: Es war klar, dass wir Handkamera oder Schulterkamera verwenden, weil man in einem engen Wohnwagen nicht anders arbeiten könnte, und auch weil wir immer sehr schnell arbeiten mussten. Wir mussten innerhalb von wenigen Minuten fertig sein, um Innenszenen drehen zu können, weil das Kind sonst aufwacht, oder einschläft, oder was auch immer. Da gibt’s halt auch einen Realismus, wenn man sich den Produktionsbedingungen unterwirft. 
Covi: Die Kamera ist mir in allen Filmen immer extrem wichtig — und der Rainer ist ein sehr präziser Kameramann. Es ist eine ruhige, schöne Kamera, das ist uns ganz wichtig und das ist auch im Konzept immer fein ausgearbeitet, wie wir die Kamera haben wollen.

Könnt ihr noch etwas zu eurem aktuellen Filmprojekt mit dem Burgschauspieler Philipp Hochmair sagen? Wird das auch wieder so ein dokumentarischer Spielfilm?
Frimmel: Genau. Es sind wieder nur wir zwei im Mini-Team, wir haben auch sehr viele rein dokumentarische Szenen gedreht, …
Covi: … schon mit einer Geschichte, aber es geht für uns um einen Schauspieler und um die Realität, in der ein so gut beschäftigter Theaterschauspieler lebt. Er spielt den Philipp Hochmair. Uns interessiert diese Welt, in der der Philipp wohnt, diese totale Fiktion, immer Texte, immer bewundert werden, immer hinter der Bühne stehen, immer lernen, immer jetten von Hamburg nach Wien – und dem stellen wir gegenüber die Realität von seinem Türnachbarn, das ist auch eine wahre Geschichte, und der spielt auch sich selber, der ist illegal eingereist und hat ganz andere Probleme.