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Herbstgold

Filmkritik

Herbstgold

| Alexander Karpisek |

Die Teilnehmer an der Senioren-WM wollen es sich und der Welt noch einmal beweisen.

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Die fünf Menschen aus unterschiedlichen europäischen Ländern, die Jan Tenhaven in seinem Dokumentarfilm Herbstgold für einige Zeit begleitet, sind zwischen 82 und hundert Jahre alt und haben ein gemeinsames Ziel: Die Teilnahme an der 18. Leichtathletik-WM für Senioren in Lathi, Finnland, im Sommer 2009. Der in Szene gesetzte Kontrast von gebrechlichen Körpern und Athletentum von Riefenstahlschem Ausmaß trifft den für dieses allzu ungewöhnliche Bildmaterial kaum vorbereiteten Sehnerv nicht ohne Erschütterung.

Am Beginn des Films steht allerdings die Vorbereitung. Man sieht dem buckeligen Tschechen Jirí dabei zu, wie er im Zuge des Hochsprung-Trainings mit voller Wucht rückwärts auf den Boden prallt und darf miterleben, wie der in Stockholm lebende Herbert seinen zur Spannung unfähigen Leib zu einem Kopfstand zwingt. Den Anschein einer Freakshow kann Tenhaven mit solchen Eindrücken nicht verhindern. Am merkwürdigsten ist schließlich der Auftritt des 100-jährigen Wieners Alfred im bombastisch inszenierten Finale in Lathi. Mit Rollator und Diskus müht er sich auf den Platz und bleibt in seiner Alterskategorie ohne Herausforderer.

Dass Jan Tenhaven die Möglichkeit einer Zukunftsperspektive für Menschen hohen Alters aufzuzeigen versucht, wird ihm niemand vorwerfen. Doch es fällt schwer, die Absurdität des Gezeigten als ernst gemeintes Argument zu akzeptieren. Jene Momente, in denen Zeitlupe und überschwänglicher Soundtrack die gefilmten Bewegungen der in die Jahre gekommenen WM-Teilnehmer verzerren und ins Euphorische heben, sind auch nicht dazu geeignet, diese Zweifel zu beseitigen. Dass Herbstgold dennoch stark berührt liegt daran, dass sich seine fünf Protagonisten der Widersprüchlichkeit ihrer gewählten Perspektive durchaus bewusst sind.

„Ich will euch überleben.“, scherzt Herbert. Der 93-jährige Sprinter setzt darauf, dass der Sport sein Leben verlängert.  Später erklärt er aber, dass er läuft, um den Erinnerungen an seine verstorbene Frau zu entkommen, mit der er fünfzig Jahre seines Lebens verbracht hat. Er bricht plötzlich mitten im Satz ab, Haltung und Mimik erzählen den bedeutenden Rest.

Die 94-jährige Diskuswerferin Gabre aus Italien verurteilt schließlich das Verhalten einer Gesellschaft, die von einer Senioren-WM nichts wissen möchte. Als angekündigtes Feelgood-Kino kann Herbstgold nicht überzeugen, weil es keines ist. Tenhavens Dokumentarfilm ist nämlich eine bemerkenswerte Anklage und ein tieftrauriges Sozialdrama geworden.