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John Woo Yu-sen

John Woo Yu-sen

John Woo – Ein Leben für das Kino

| Ralph Umard |

Seine erste Reaktion ist typisch. Er sei sehr dankbar, dass er mit Filmen Freundschaften schließen könne, sagt der Mann, der Männerfreundschaften und Treue bis in den Tod zum zentralen Thema seiner Heldenepen machte, als er von seiner geplanten Ehrung erfährt: John Woo Yu-sen wird bei den 67. Filmfestspielen in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

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In der Begründung des Direktoriums der Biennale di Venezia heißt es, John Woo habe mit „seinem revolutionären Konzept der Inszenierung und Montage den Action-Film bis ins Innerste erneuert und extreme Stilisierung eingeführt“, sowie ein „hoch originelles poetisches und romantisches“ Gepräge. Seine Bildgestaltung sei eine Art „visueller Kunst“.

Der Preisträger, der diesen Monat 64 wird (es kursieren verschiedene Geburtsdaten, Woo selber sagt: „Ich bin 1946 geboren, am 23. September um ein Uhr morgens.“), ist der international erfolgreichste chinesische Regisseur aller Zeiten, allein seine US-Produktionen haben weit über eine Milliarde Dollar eingespielt. Woos monumentaler Kriegsfilm Red Cliff (2008), in dem es einmal mehr um die Freundschaft zweier Helden geht, brachte in China mehr ein als jeder andere Kinofilm zuvor. Bereits in seiner Heimat Hongkong hatte Woo 1986 mit dem meisterhaften Gangstermelodram A Better Tomorrow Kassenrekorde gebrochen.

Meister der Stilisierung

Mit seinen elegischen, ballettartig choreografierten, kunstbluttriefenden Mega-Massakern, laufend wechselnden, zum Teil extremen Kameraperspektiven, symbolträchtigem Dekor, Parallelmontagen, Rückblenden, Standbildern und Zeitlupen wirkte der Kantonese wie kein anderer stilbildend bei der Inszenierung von furiosen Feuergefechten, erst in Asien, dann auch in den Vereinigten Staaten. Die kunstvolle Stilisierung, das geschickte Spiel mit Filmzitaten und verschiedenen Verhaltensmotiven begeistert Cineasten und Filmemacher in Ost und West. Krimis wie The Killer (1989) stammen aus dem Herzen Hongkongs, werden aber von Woo mit vielerlei Attributen aus der Kinokultur des Abendlandes ausgestattet, so dass sie für das Publikum in den USA und Europa den Reiz des Exotischen haben, ohne fremd zu wirken. Frei von postmoderner Gesinnung verquickt Woo unbekümmert Bilder und Stilelemente aus den Werken der von ihm bewunderten Regisseure des Orients und Okzidents – mit einer kulturellen Unbefangenheit, welche die Profis in Hollywood vor langer Zeit schon verloren haben.

Schaut man sich aktuelle Action-Kracher US-amerikanischer Machart wie The A-Team an, wo es ebenfalls um Männerfreundschaft geht, wird man von ihrer visuellen Wucht und ohrenbetäubendem Lärm förmlich erschlagen. Letztlich lässt einen der spektakuläre Overkill auf der Leinwand jedoch kalt und langweilt irgendwann sogar, denn solchen Filmen fehlt emotionaler Tiefgang, es fehlen sorgfältig charakterisierte Figuren, die Mitgefühl bei Zuschauer evozieren – mal ganz abgesehen von der völlig abstrusen, konfus zusammengestückelten Handlung. Mit hoch entwickelter Computertechnik kann man heute Luftschlachten zwischen Kampfjets und einem durch die Wolken wirbelnden Panzer zeigen, die Steigerung der Action ins Fantastische ist aber nicht gleichbedeutend mit mehr Spannung oder Thrill. Im Gegenteil, The A-Team wirkt wie ein maschinell erzeugtes Produkt aus der Filmfabrik, steril und ohne Faszinationskraft – Popcorn-Kino für den Ex-und-hopp-Konsum.

Woos Krimi-Klassiker wie A Better Tomorrow oder The Killer mit ihrer dramaturgisch komplexen Handlungsstruktur, ihrer hochgeputschten Melodramatik, sowie den konventionell und souverän in Szene gesetzten Feuergefechten haben dagegen bis heute nichts von ihrer Faszinationskraft verloren, man schaut sie sich gerne mehrmals an. Anders als seine jüngeren, zumeist aus der Werbefilm-Branche kommenden US-amerikanischen Kollegen bietet John Woo auch in US-Produktionen wie Windtalkers (2002) nicht bloß Oberflächenreize, ihm kommt es nicht nur darauf an, zu zeigen, ob oder wie seine Helden die Kampfhandlungen gewinnen – Woo interessiert sich auch dafür, was sie dabei empfinden, wie sie sich dabei näher kommen. Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen bilden das emotionale Zentrum seiner Werke. Neben der Action geht es Woo um die Darstellung großer Gefühle und traditioneller Wertvorstellungen wie Ritterlichkeit und Ehre, mit den dazugehörigen Ritualen, Verhaltensregeln und Gefahren des Fehlverhaltens. Seine Gewaltdarstellungen wirken nicht zynisch, man wird auch nicht, wie so oft in den US-Action-Krimis, auf ironische Distanz gebracht, und so treffen die Kugeln und Gefühle auch den Zuschauer.

John Woos Heldenepen reflektieren eigene Charakterzüge des Regisseurs: ein romantischer Moralist, geprägt durch christliche Erziehung, konfuzianische Ethik und die harte Kindheit in einem Hongkonger Slum. Der tuberkulosekranke Vater kann kaum arbeiten, die Mutter klopft auf Baustellen Steine klein, der kleine John und seine Geschwister müssen um Essen betteln. Der Knabe sehnt sich nach Geborgenheit und Zuwendung. Die lutherische Kirche bezahlt seine Schulgebühren, eine amerikanische Familie sponsert die College-Ausbildung. Im Kino findet er Ablenkung von den bedrückenden Problemen des Alltags, seine Fantasie wird beflügelt, er bewundert die Helden in japanischen oder chinesischen Schwertkämpfer-Filmen, aber auch elegante abendländische Degenfechter wie Scaramouche.

Vom Kino begeistert, tritt John Woo Cineasten-Klubs bei, jobbt als Statist und dreht fünf experimentelle Kurzfilme im Super-8-Format. 1969 bekommt der Twen eine Praktikanten-Stelle beim Cathay Studio, er streicht Kulissen an und arbeitet als Script Supervisor. Nach seinem Wechsel zum Shaw Bros. Studio avanciert er zum Regie-Assistenten des Eastern-Routiniers Chang Cheh und darf auch verschiedene Szenen selber drehen. Er erhält nur einen Hungerlohn, kann aber 1973 sein unabhängig produziertes Regiedebüt realisieren, einen Kung Fu-Film, der allerdings erst 1975 unter dem englischen Titel The Dragon Tamers in Hongkong von der Firma Golden Harvest veröffentlich wird, für die Woo fortan als Vertragsregisseur arbeitet.

Schon im Erstling tauchen Leitmotive, Typen und Themen auf, die später in Woos Hauptwerken weiterentwickelt werden. Es geht um die heroische Freundschaft zwischen einem edlen Räuber und einem rechtschaffenen Mann des Gesetzes. Zunächst kämpfen sie gegeneinander, lernen sich dabei kennen und schätzen, beim Gefecht gegen einen gemeinsamen Feind stirbt der Räuber, während der Gendarm überlebt – im Prinzip die gleiche Beziehungsgeschichte, die Woo in The Killer noch mehr dramatisiert. Last Hurrah for Chivalry (1979) ist die beste Arbeit des Newcomers im Martial-Arts-Genre, auch hier ist die Hauptfigur ein Killer, der für Geld mordet, im Grunde seiner Seele aber einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besitzt.

Berühmt wird John Woo zuerst als Regisseur von Komödien, die im Westen noch immer wenig bekannt sind. Die chaotische Slapstick-Klamotte Money Crazy ist 1977 der Kino-Tophit in Hongkong, drei Jahre später erscheint mit From Riches to Rags Woos substanziellste Komödie. Trotz allerlei Klamauks reflektiert und parodiert sie die hyper-materialistische Mentalität der Bürger und den hektischen Lebensstil in der Kapitalistenhochburg Hongkong. Mit offensichtlichem Sinn für das Absurde im alltäglichen Leben und einer Hauptfigur, welche die Sinnlosigkeit menschlichen Lebens und Strebens personifiziert, karikiert Woo typische Zeitgenossen und ihre Gewohnheiten: ihre Gier nach Geld und Statussymbolen, die affige Arroganz der Reichen und das hündische Kriechertum der Armen. Er zeigt, dass hinter den hochmodernen Glitzerfassaden von Hongkong das Vulgäre, Archaische, Barbarische lauert, und versieht diesen Film über den Verlust von Illusionen und die Diskrepanz zwischen den Wunschvorstellungen eines Menschen und seinem tatsächlichen Dasein mit allerlei Filmzitaten, u.a. aus The Deer Hunter oder 2001: A Space Odyssey.

Ambivalente Hollywood-Karriere

Bald fühlt sich Jhon Woo als Auftragsregisseur verschlissen, doch erst Mitte der Achtziger Jahre, nachdem sein damaliger Freund und Regiekollege Tsui Hark eine eigene Produktionsfirma gegründet hat, kann er mit A Better Tomorrow einen Krimi ganz nach seinem Gusto machen. Nach einer wenig gelungenen Fortsetzung folgt mit The Killer dann der Film, der Woos Weltruhm begründet und den Weg nach Hollywood öffnet. Er unterschreibt einen Regievertrag für mehrere Filme bei Universal. Die Amerikaner wollen aus Woos Kreativität und seinem Ruf als Meister des kantonesischen Kriminalfilms Profit schlagen, was auch gelingt. Trotz einer schwierigen Anpassungszeit im Dienste der US-Filmindustrie, wo Woo lernen muss, sich in den Minenfeldern der Meetings und im Sperrfeuer der Konkurrenten und Neider zu behaupten, spielen seine Filme Gewinne ein. Mit Face/Off (1997) gewinnt er auch die Anerkennung anspruchsvoller Filmkritiker. Nach dem Riesenerfolg von Mission: Impossible II (2000) wird John Woo im Branchenblatt „Variety“ in ganzseitigen Anzeigen als „Billion Dollar Director“ gefeiert – jetzt ist er ganz oben.

Doch alsbald beginnt Woos Stern wieder zu sinken, sein Kriegsfilm Windtalkers, wie auch seine bislang letzte Hollywood-Produktion Paycheck erfüllen die hochgesteckten Erwartungen an der Kinokasse nicht. Auch die internationale Filmkritik reagiert ohne Enthusiasmus. Frustriert beschließt Woo, wieder in der Heimat zu arbeiten, wobei ihm die Entwicklung auf dem chinesischen Kinomarkt entgegenkommt.

Die chinesische Regierung hat die Kontrolle über die Kinowirtschaft im Laufe der Jahre gelockert. Heute ist es für ausländische Filmgesellschaften – wie die US-Firma Lion Rock von John Woo und Terence Chang – einfacher als je zuvor, Drehgenehmigungen oder chinesische Koproduzenten zu bekommen. Mit aufwändigen Großproduktionen will man den besonders bei der zunehmend westlich orientierten chinesischen Jugend beliebten US-Blockbustern Konkurrenz machen, und da passt eine martialische Mammutproduktion wie Red Cliff ins Kalkül. Handlung und Hauptfiguren sind jedem Schulkind in China vertraut, der Krieg der Drei Reiche ist eines der bekanntesten Kapitel der chinesischen Geschichte. Kino ist das populärste Kulturexportgut Chinas, und da die Regierung wünscht, dass China nicht nur als Wirtschaftsweltmacht, sondern auch als Kulturnation wahrgenommen wird, wurde Red Cliff als Prestigeprojekt mit einem – für chinesische Verhältnisse – Rekordetat von rund 80 Millionen Dollar ausgestattet, in der zweiteiligen Originalfassung wird wiederholt auf die hohe Entwicklung der Philosophie, Poesie und Kalligraphie im alten China hingewiesen. Noch ambitionierter ist das Fantasy-Filmprojekt Empires of the Deep von Jon Jiang, das derzeit nördlich von Beijing auf dem weltgrößten Filmset in 3-D Technik gefilmt wird.

Jhon Woo plant derweil eine amerikanisch-chinesische Koproduktion über eine US-Fliegerstaffel, die China im Zweiten Weltkrieg gegen die Japaner verteidigt hat. Im neuen Martial Arts Film Reign of Assassins, bei dem Woo als Ko-Regisseur neben Su Chao-bin genannt wird, setzt man auf den weiblichen Top-Star Michelle Yeoh, weltbekannt geworden durch ihre Hauptrolle im James Bond-Abenteuer Tomorrow Never Dies, um ein internationales Publikum anzusprechen. Yeoh spielt eine Attentäterin im Besitz einer mystischen Kungfu-Geheimlehre.

John Woo ist eine Ausnahmeerscheinung. Er ist nicht nur einer der wenigen Regisseure, denen es gelingt, bei der Arbeit in der kommerziellen Kinoindustrie eigene Ideen und Leitmotive sowie seinen persönlichen Handschrift in Genreproduktionen stilbildend einzubringen. Er hat das Interesse vieler Film-Fans im Westen für das Hongkong-Kino geweckt und maßgeblich dazu beigetragen, dass jede Menge Chinesen aus der ehemaligen britischen Kronkolonie Arbeit in der US-amerikanischen Filmindustrie fanden, nicht nur Regisseure wie Ronnie Yu, Stars wie Jackie Chan oder Kampfkunstexperten wie Yuen Woo-ping, sondern auch Cutter, Kostümbildner und andere Spezialisten. Woo selbst – ein empfindsamer, redlicher Mensch mit hohen moralischen Ansprüchen – konnte mit Hilfe geschäftstüchtiger Freunde wie dem Produzenten Terence Chang als Regisseur in Hollywood reüssieren, wo opportunistischen Egomanen und profitgierige  Konzernherren regieren. Sein phänomenaler Erfolg sei „zu drei Teilen auf Genie, zu sieben Teilen auf mühevolle Anstrengung und Jahrzehnte lange harte Arbeit zurückzuführen“ meint Woos Frau Annie Ngau Chun-lung. Er erhielt Ehrungen zuhauf, einen Stern auf dem Hollywood Boulevard, ist reich und berühmt … und trotzdem bescheiden und redlich geblieben – „ein liebenswürdiger Mann, der gewalttätige Filme macht“ (Stephen Teo).

Thomas Gaschler / Ralph Umard: Woo Leben und Werk.
belleville Verlag, München 2005, 556 Seiten