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Sandra Hüller

Sandra Hüller

„Ich glaube nicht an Lebenspläne“

| Christina Tilmann |

Einer der Eröffnungsfilme des Crossing Europe Festivals ist „Brownian Movement“, sehenswert allein schon wegen seiner Hauptdarstellerin, Sandra Hüller. Ein ausführliches Gespräch unter anderem über Sex, Lügen und „Madame Bovary“.

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Sandra Hüller, geboren 1978 in Suhl/Thüringen, wurde 2006 durch Hans-Christian Schmids Film Requiem schlagartig bekannt (siehe „ray“-Coverstory 04/06). Die Rolle der Studentin Michaela, die in den Siebziger Jahren an den Folgen eines Exorzismus stirbt, brachte ihr den Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin und den Deutschen Filmpreis ein. Die Schauspielerin, die an der Berliner Hochschule Ernst Busch studiert hat, ist gleichermaßen im Theater wie im Film zuhause. Nach Stationen in Jena und Leipzig war sie von 2002 bis 2006 am Theater Basel engagiert und spielt seitdem häufiger an den Münchner Kammerspielen. Auf der Leinwand spielte sie 2006 in Madonnen von Maria Speth eine verwahrloste Mutter, 2008 in Max Färberböcks Anonyma ein Vergewaltigungsopfer an der Seite von Nina Hoss und in Der Architekt von Ina Weisse (als Tochter von Josef Bierbichler). Auf der diesjährigen Berlinale war Sandra Hüller in zwei Filmen zu sehen. In Über uns das All von Jan Schomburg ist sie eine Ehefrau, die den Selbstmord ihres Gatten verkraften muss, im niederländischen Film Brownian Movement – Bestandteil des diesjährigen Crossing-Europe-Tributes an Nanouk Leopold und Stienette Bosklopper – spielt sie eine junge Frau, die ihren Mann mit fremden Männern betrügt. Sandra Hüller lebt mit Freund und Tochter in Berlin.

Frau Hüller, Sie spielen in zwei Filmen, die gerade auf der Berlinale ihre Uraufführung erlebten. Einer davon, Brownian Movement, ist nun auch beim Crossing Europe Filmfestival in Linz zu sehen. In beiden Fällen verkörpern Sie starke, selbständige Frauen, die ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestalten. Ist das Zufall, oder haben Sie nach dem Erfolg mit Requiem bewusst solche Rollen gesucht, um von der Opferrolle der Michaela wegzukommen?
Sandra Hüller:
Am Anfang waren das zwei völlig unabhängige Geschichten, ich habe die Filme nie in einen Topf geworfen. Erst dadurch, dass sie nun parallel auf der Berlinale liefen, werden sie zusammen gesehen, und das ist auch richtig: Es ist ein Themenkomplex. Es geht in beiden Fällen um Geheimnisse, Liebe, Lügen und Vertrauen. Das Selbstständige war mir nicht so wichtig. Ich wollte wissen: Wie geht man damit um, dass man den Menschen, den man liebt, eigentlich nicht kennt. Oder dass man der Mensch ist, der nicht gekannt wird.

In beiden Filmen werden die Rätsel nicht aufgelöst. Sie sind bekannt dafür, dass Sie sehr analytisch an Ihre Rollen herangehen. Wie spielt man eine Frau, die ein Rätsel bleibt?
Sandra Hüller: Das war ein großer Unterschied zu meiner Figur in Requiem. Dort gab es einen pathologischen Befund und eine wahre Geschichte, nach der der Film angelegt war, das heißt, ich hatte eine Verantwortung gegenüber der realen Figur. Das war hier anders. Die Personen in den neuen Filmen sind reine Erfindungen und dadurch gute Projektionsflächen. Ich weiß weder, warum Charlotte in Brownian Movement diese Männer trifft, noch ob Martha in Über uns das All den zweiten Mann so sehr liebt wie den ersten. Ich habe das auch für mich bewusst im Dunkeln gelassen.

Ihr Gesicht ist eine ideale Projektionsfläche. In Brownian Movement, in dem wenig geredet und noch weniger erklärt wird, ist es eigentlich nur Ihr Gesicht, das spricht. Wie bewusst können Sie Ihre Wirkung steuern?
Sandra Hüller: Ich habe nicht in der Hand, was vor der Kamera passiert. Ich kann mich da nur hingeben. Wir haben beide Figuren nicht psychologisch durchdrungen, deshalb bleibt so viel Raum, und deshalb sucht die Kamera auch so. Ich bin eigentlich ein Mensch, der gern Antworten auf alles hat, und finde es sehr entspannend, wenn man einmal sagt, es gibt keine Antworten.

In beiden Filmen spielt Sex eine große Rolle. Sie gehen vor der Kamera sehr frei, sehr unverkrampft damit um. Wollten Sie das so, oder haben Sie die Sexszenen eher als notwendige, aber unangenehme Pflicht angesehen?
Sandra Hüller: Es war der richtige Zeitpunkt. Vorher hätte ich das nicht so gekonnt, vorher wäre ich nicht so sehr mit mir im Reinen gewesen, dass ich das so hätte spielen können. Ich habe nicht danach gesucht, aber es hat mich schon interessiert, es auszuprobieren. Und es ist bei beiden Filmen klar, dass es ohne nicht geht. Es sind Geschichten genau über diese Entblößung.

In Brownian Movement geht es viel um Sprache und das, was Sprache nicht erklären kann. Ihre Figur, Charlotte, sagt in der Therapieszene: „Wenn ich es erklären würde, würde ich alles noch viel schlimmer machen.“ Gleichzeitig ist der Film auf Englisch, also für Sie in einer Fremdsprache gedreht. Hat das eine Rolle gespielt?
Sandra Hüller: Ich fand es sehr befreiend, auf Englisch zu drehen. Es war wie ein Kleidungsstück, das ich angezogen habe, etwas, das mich geschützt hat und manches von mir weggehalten hat, weil ich gemerkt habe, das bin nicht eigentlich ich. Außerdem spiele ich ja keine Muttersprachlerin, sondern eine Deutsche, die in Brüssel lebt, da macht es also nichts, wenn ein bisschen Akzent zu hören ist.

Nach Requiem haben Sie gesagt, es sei die Intensität, die Sie suchen im Film. Ist das so geblieben? Oder haben Sie mit zunehmender Erfahrung mehr Routine bekommen?
Sandra Hüller: Es geht mir noch immer darum, die Dinge unter die Lupe zu nehmen und zu vergrößern. Das mache ich generell, doch in der Arbeit hat es Platz. Im Leben wirkt es eher komisch, wenn man alles aufbläst. Aber früher habe ich tatsächlich mehr das Drama gesucht. Es ist heute keine Intensität mehr, die man mit Hilfe von Kaffee, Zigaretten und großen Gedanken herstellen müsste. Es ist eine Intensität, die ohnehin stattfindet. Man muss sie nur wahrnehmen.

Fühlen Sie sich in der deutschen Filmszene zuhause oder sind Sie eher eine Außenseiterin?
Sandra Hüller: Ich habe meine kleine Filmfamilie, aber ich gehöre vielleicht nicht an den großen Tisch. Das ist auch gut so, denn dafür hätte ich Dinge tun müssen, die ich nicht gern tue: meine Abende auf allen möglichen Filmveranstaltungen zu verbringen zum Beispiel. Dafür habe ich einfach nie Zeit. Die meisten Kollegen, die das machen, spielen nicht nebenbei noch Theater, für die ist das eine tolle Freizeitbeschäftigung. Bei mir ist das so: Wenn ich nicht drehe, dann fahre ich irgendwohin und spiele meine Vorstellung. Da bleibt nicht viel Raum.

Gleichzeitig gibt es ja eine ganze Riege herausragender junger Schauspielerinnen, die diesen Spagat zwischen Theater und Film bewusst suchen: Julia Jentsch und Birgit Minichmayr, Nina Hoss und Katharina Schüttler. Fühlen Sie sich da einer Gruppe zugehörig?
Sandra Hüller: Ich kenne keine von ihnen persönlich. Ich beobachte natürlich ihre Arbeit. Wenn man vom Theater kommt, ist man ohnehin anders miteinander verbunden, als wenn man nur Film macht. Aber ich würde gern zum Beispiel einmal mit Birgit Minichmayr zusammenarbeiten …

Sie haben einmal gesagt, Theater sei Ihre wahre Leidenschaft, Film nur ein Flirt. Gilt diese Gewichtung für Sie noch?
Sandra Hüller: Ich würde das heute nicht mehr so sagen. Aber Theater ist auf jeden Fall die geerdete Variante. Beim Film wird einem vieles abgenommen, was man am Theater selbst machen muss. Ich bin so erzogen, dass ich meinen Dreck selber wegmache, und es kommt mir komisch vor, wenn das jemand anderes für mich erledigt. Außerdem ist Theater prozesshafter, da fühle ich mich sicherer, weil ich weiß, es geht nicht um den einen hundertprozentigen Moment vor der Kamera. Doch wenn man Glück hat, findet man auch beim Film einen Regisseur, der so probt wie beim Theater.

Sie kontrollieren gern. Gibt es denn trotzdem Momente, in denen Sie improvisieren? In Über uns das All, da gibt es diese Szene, in der Martha ihrem Liebhaber einen perfekten Wutanfall vorspielt, das wirkte sehr glaubwürdig und spontan …
Sandra Hüller: Das war tatsächlich nicht geprobt, eher besprochen. Wir wussten, was wir wollen, aber noch nicht, auf welchem energetischen Level es stattfinden soll. Und um nichts zu verpulvern, haben wir die Szene dann erst am Drehort ausprobiert. In einer Fußgängerzone würde jemand wie Martha nicht hemmungslos rumschreien.

Wenn Sie heute noch einmal Requiem sehen – fühlen Sie sich dieser Sandra Hüller von damals noch nah?
Sandra Hüller: Es ist viel passiert seitdem. Aber ich kenne diese Sandra noch gut, ich weiß noch genau, was sie wollte damals und welche Energie das war. Ich hätte schon Lust, mal wieder so etwas Extremes zu machen, aber bis jetzt ist mir das nicht wieder begegnet, und ich war seitdem auch nicht bereit, für eine Geschichte so weit zu gehen.

Sie haben immer geschwankt zwischen Freiheit und Gebundenheit. Nach Requiem gaben Sie Ihre feste Stelle am Theater Basel auf. Nun heißt es, Sie würden ab 2012 fest an die Kammerspiele nach München gehen.
Sandra Hüller: Das war im Gespräch, aber ich habe mich doch dagegen entschieden. Ich bin dem Haus verbunden, ich gehöre da künstlerisch hin. Der Regisseur und jetzige Intendant Johan Simons hat eine Art, mit Räumen, Gedanken und Schauspielern umzugehen, die ist für mich so einzigartig und so richtig, dass ich nichts anderes mehr will. Deshalb haben wir verabredet, dass wenn ich Theater mache, ich dort Theater mache. Aber ich bin nach wie vor frei.

Wie weit planen Sie denn im Voraus?
Sandra Hüller: Ehrlich gesagt, außer dass ich weiter Filme drehen werde und ab und zu in München arbeiten werde, weiß ich nicht viel mehr. Vielleicht mache ich noch einmal eine Ausbildung oder wieder Musik – im Moment liegt das alles brach, weil ich mich nicht konzentrieren kann. Aber diese Bereiche gibt es, und ich warte auf den Moment, wo das aufploppt und ich richtig loslegen kann. Ich glaube nicht an Lebenspläne. Damit verbaut man sich so unheimlich viel.

Haben Sie aus Ihren Rollen fürs Leben gelernt? Sie haben auffällig oft Mutterrollen gespielt, in Maria Speths Film
Madonnen, in der Münchner Inszenierung von „Mamma Medea“. Nun sind Sie selbst Mutter geworden. Ist es so, wie Sie es gespielt haben?
Sandra Hüller: Das ist etwas ganz anderes. Ich mache mir vorher schon Gedanken, aber das ist theoretisch. Gestern habe ich eine Anfrage von einem Kongress bekommen, wo es um Trauer geht, nur weil ich in Über uns das All eine trauernde Frau gespielt habe. Ich finde das anmaßend: Ich habe noch nie so etwas erlebt in meiner Familie. Und nur weil ich jetzt einen Text gespielt habe – was sollen denn die Menschen denken, denen so etwas tatsächlich  passiert ist? Filmen ist immer eine theoretische, manchmal auch philosophische Auseinandersetzung mit einem Thema. Da lernt man auf ganz vielen Ebenen etwas. Aber ganz sicher nicht fürs Leben.

Sie haben in einem „Zeit“-Interview unlängst von einem Traum erzählt, in dem ein großer schwarzer Hund Sie schlafend durchs Leben trägt. Gibt es einen Regisseur, dem Sie sich gern so sehr anvertrauen würden, quasi im Schlaf?
Sandra Hüller: Ja. Michael Haneke.

Michael Haneke ist auch jemand, der stark kontrolliert …
Sandra Hüller: Bei kontrollierten Menschen ist es oft so, dass sie sich erst hingeben können, wenn sie jemand anderen genauso Kontrollierten treffen, weil sie wissen, der übernimmt das jetzt.

Gibt es eine Rolle, die Sie unbedingt einmal spielen wollen? So jemand wie Madame Bovary?
Sandra Hüller: Wie kommen Sie denn auf Madame Bovary? (verblüfft) Ich lese das gerade! Der Ton von Flaubert gefällt mir unglaublich gut, diese Lakonie, der unterschwellige Hass auf die Gesellschaft. Diese Wohlstandswelt, die Flaubert schildert, interessiert mich sehr. Dass man sagt, es ist doch alles da, und es läuft trotzdem nicht. Das hat viel mit uns heute zu tun – gerade wenn ich mich hier umschaue, am Prenzlauer Berg. Da bekommen die Leute Kinder und gehen dann auseinander, weil es immer noch nicht reicht. Permanent zu denken, man wäre im falschen Leben, ist eine Falle, das funktioniert so nicht.