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Labyrinth der Wörter

Das Labyrinth der Wörter

| Alexandra Seitz |

Realitätsferner Wohlfühlfilm, der von der Erweckung eines tumben Toren erzählt

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Germain ist groß und grobschlächtig, Margueritte ist klein und zierlich. Er ist um die fünfzig und eher ungebildet, sie ist über neunzig und sehr belesen. Germain und Margueritte lernen einander eines schönen Tages beim Taubenfüttern in einem Park kennen und freunden sich miteinander an. Die kluge alte Dame und der naive Hilfsarbeiter sind ein ungleiches Paar, und doch vermögen sie einander viel zu geben, verändern schließlich sogar das Leben des je anderen.

Jean Beckers La Tête en friche beruht auf einem Roman von Marie-Sabine Roger und feiert das geruhsame sommerliche Leben in einer kleinen Stadt in der französischen Provinz, in der die Welt noch in Ordnung ist. Im Widerspruch zu diesem vordergründigen und durchaus oberflächlich in Szene gesetzten Idyll steht allerdings, dass Germain von Kindheitserinnerungen an tyrannische Lehrer und eine lieblose Mutter geplagt wird, während Margueritte von ihrer Familie vernachlässigt und schließlich in eine staatliche Altenverwahranstalt abgeschoben wird.

Insgesamt ist La Tête en friche von Widersprüchen geprägt, dient Missverhältnismäßigkeit als durchgehendes Motiv, aus dem die Erzählung ihr sentimentales Potenzial gewinnt: Da ist das auf den ersten Blick sichtbare, äußere Missverhältnis zwischen Germain und Margueritte, das als Anzeichen des zwischen den beiden bestehenden Bildungsunterschiedes fungiert, als Markierung einer intellektuellen Fallhöhe von dünn zu dick, klein zu groß. Vor allem ist da aber der von Germain buchstäblich verkörperte Widerspruch zwischen dem Ungeschlachten, Unkultivierten, Unwissenden und dem Empfindsamen, Neugierigen, instinktiv Klugen – einer zarten Seele im Inneren eines unbeholfen wirkenden Körpers, die die Verwechslung von „Langsamkeit“ mit „Dummheit“ zeitlebens an der Entfaltung hinderte. Bis Germain auf Margueritte trifft, die ihm ausgerechnet aus Albert Camus’ „Die Pest“ vorliest und dem tumben Toren solcherart neue Horizonte eröffnet, die er sich begierig erschließt.

Die blauäugige Art, in der La Tête en friche Bildung als rettendes Allheilmittel und leicht verfügbares Gut präsentiert, trägt zum Fabel-Charakter des Ganzen bei. Tiefer gehende, ernst zu nehmende Auseinandersetzungen mit dem Thema sucht man dementsprechend vergeblich. Aber wer dem französischen Nationaldenkmal Gérard Depardieu dabei zusehen will, wie er mit der 96-jährigen Gisèle Casadesus um die Wette charmiert, ist gut bedient.