Poll Film

Das Ende einer Epoche aus der Perspektive einer 14-Jährigen

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Am Vorabend des Ersten Weltkrieges besucht die 14-jährige Oda von Siering (Paula Beer) ihren Vater auf dem Familiengut in Estland. Im Gepäck hat sie den Sarg mit dem Leichnam ihrer Mutter, der in heimischer Erde bestattet werden soll. Odas Vater Ebbo (Edgar Selge), ein gescheiterter Arzt, hat sich auf dem Gut ein Labor eingerichtet, in dem er den Leichen von estnischen Anarchisten das Gehirn entfernt, um dem Bösen auf die Spur zu kommen. Er ist zum zweiten Mal verheiratet mit der somnambulen Milla (Jeanette Hain), die wie besessen Cello spielt und ein Verhältnis mit dem virilen Gutsverwalter (Richy Müller) hat. Die junge Oda, die Schriftstellerin werden will, kann sich nicht so recht einfinden in die marode Gemeinschaft auf dem Gut. Als sie einen verletzten Anarchisten in der kleinen Friedhofskapelle entdeckt, versteckt sie ihn auf dem Dachboden des väterlichen Labors und pflegt ihn gesund, obwohl sie weiß, dass sie damit nicht nur sich selbst, sondern ihre ganze Familie in Gefahr bringt. Zwischen dem „gnädigen Fräulein“ und dem Freiheitskämpfer, einem Journalisten, entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte, vor allem eine Seelenverwandtschaft. Dann überschlagen sich die Ereignisse, und das russisch-estnisch-deutsche Gesellschaftsgefüge bricht auseinander, als der Erste Weltkrieg beginnt. Eine Epoche geht zu Ende und das Mädchen Oda wird erwachsen.

Chris Kraus hat sich vom Leben seiner Großtante, der Schriftstellerin Oda Schaefer (1900–1988), inspirieren lassen. Er verdichtet ihre Lebensgeschichte, indem er die Familienkonflikte mit den wichtigen Themen jener Zeit verbindet. Ebbos vermeintliche wissenschaftliche Erkenntnisse werden später eine Rolle in der Rassentheorie spielen. Der Zerfall der Herrschaftsstrukturen im Baltikum läutet die Umwälzung der Weltordnung durch den Weltkrieg und die russische Revolution ein. Vor allem aber beeindruckt der Film durch das grandiose Setting. Ein baufällig wirkendes Haus auf Stelzen im Stile Palladios ragt aus dem Meer und bildet das Zentrum eines Gehöfts am Wasser. Wie ein Symbol für eine untergehende Zeit und deren Lebensform. Die Schauspieler, die im Deutschbalten-Dialekt sprechen, sind hervorragend besetzt. Allen voran die Debütantin Paula Beer, die durch ihre Ambivalenz zwischen Unschuld und Durchtriebenheit glänzt. Der Mut des Regisseurs zu großen Bildern und Pathos beeindruckt und wird in Erinnerung bleiben. Die dick aufgetragene Drastik jedoch, wie etwa die auf den Boden platschenden Präparate Ebbos, setzt platte Effekte ein, die die opulente Geschichte nicht nötig hätte.