ray Filmmagazin » Literatur » Enzyklopädie des Horrors

Filmbuch

Enzyklopädie des Horrors

| Benjamin Moldenhauer |
Kim Newman hat vor einem Vierteljahrhundert die Bibel des Horrorgenres vorgelegt. Jetzt ist „Nightmare Movies“ in einer erweiterten Fassung erschienen.

Vor 25 Jahren erschien Kim Newmans „Nightmare Movies“, der neben Robin Woods „The American Nightmare“, soweit ersichtlich, erste Versuch, die nach dem Niedergang der klassischen Genrefiguren entstandenen Filme in die Geschichte des Horrorgenres zu integrieren. „Nightmare Movies“ umfasste die in den Siebziger Jahren virulente Welle von überraschend drastischen Filmen, wie The Texas Chainsaw Massacre (1974) und Last House on the Left (1972), sowie die Werke Dario Argentos und damals aktuelle Tendenzen im britischen Genrekino. Anders als der vor allem kulturtheoretisch ambitionierte Wood leistete Newman eine erschöpfende empirische Arbeit. Das Buch erweckte den wahrscheinlich nicht einmal falschen Eindruck, sein Autor hätte aber auch wirklich jeden  Horrorfilm der letzten Dekaden gesehen.

Werbung

Jetzt ist nicht einfach eine Neuauflage von Newmans Standardwerk erschienen, sondern eine um ein Vierteljahrhundert Genregeschichte ergänzte Fassung; das Unternehmen hat enzyklopädische Ausmaße angenommen. Ausgehend von einem denkbar integrativen Genreverständnis – „the story of horror in the cinema is larger than the story of the horror film“, schreibt der Autor – rekonstruiert Newman auf den ca. 300 neu hinzugekommenen Seiten die Entwicklung des Horrorfilms seit 1985. Newman surft mit traumwandlerischer Sicherheit durch die verschiedenen Subgenres – die ironisierten Slashervariationen nach Scream (1996), den Vampirfilm, Zombies, klassisch gestimmte Geisterfilme und der sogenannte torture porn, immerhin jenes Genresegment, das, was immer man von Filmen wie Hostel (2005) oder Alexandre Ajas The Hills Have Eyes (2006) halten mag, das Erbe der Filme der Siebziger angetreten hat. Eine für Newman offensichtlich ambivalente Entwicklung, die er andeutungsweise als eine Verfallsgeschichte beschreibt: „The horror movies of the American Nightmare suggested that there was something wrong with society, but the message of the twenty-first century is that other people are shit.“

Man muss mit dem Autor nicht immer einer Meinung sein, um sich über die großzügig auf jede Seite gestreuten prägnanten Formulierungen zu freuen. Kim Newman schreibt frei von akademischem Ballast und kann sich auf sein beeindruckendes Filmwissen verlassen, das es ihm erlaubt, zu jedem Film, wo nötig, ein halbes Dutzend Referenzpunkte anzuführen. Dass man sich beim Lesen in den zahllosen Verknüpfungen nicht verliert, ist erstaunlich, aber es funktioniert. So dokumentiert „Nightmare Movies“ nicht nur die formwandlerischen Fähigkeiten und die Konstanten des Horrorfilms, sondern auch eine ausdauernde Begeisterung für das Genrekino, die sich ohne Weiteres auf den Leser überträgt. Eine Wahrnehmung zieht sich für Newman durch die gesamte Genregeschichte: „To me, the central thesis of horror in film and literature is that the world is a more frightening place than is generally assumed.“ Das ist so banal wie nachvollziehbar und liefert eine erste Erklärung dafür, dass der Horrorfilm, nachdem er in nahezu jedem Jahrzehnt einmal für tot erklärt worden ist, nach wie vor und immer wieder ein Publikum findet, dem die schrecklichen Bilder im Wortsinn etwas bedeuten. Man kann sich des Verdachts nämlich nicht erwehren, dass das Genre mit seiner These recht haben könnte.