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Österreich Dossier – Markus Schleinzer

Der Schrecken der Normalität

| Günter Pscheider |

Mit „Michael“ legt der in Branche hoch geschätzte Casting-Agent Markus Schleinzer sein Regiedebüt vor, das es – ein nicht alltägliches Vorkommnis – auf Anhieb in den Wettbewerb von Cannes schaffte. Nun kommt der Film in die heimischen Kinos.

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Ein 10-jähriger Bub und ein 40-jähriger Mann feiern Weihnachten, schauen Herr der Ringe im Fernsehen, legen gemeinsam ein Puzzle oder machen eine Schneeballschlacht. Dieser Alltag läuft keineswegs konfliktfrei ab – gegenseitige Demütigungen, kleine Momente der Freude und immer wieder das Problem mit dem Gehorsam –, Alleinerzieher reiben sich eben besonders an den Kindern. Aber Michael, die Titelfigur in Markus Schleinzers beeindruckendem Debütfilm, ist nicht der Vater des Jungen. Er hat ihn entführt und hält ihn im Keller seines Einfamilienhauses gefangen, um seine pädophilen sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.

Ganz langsam führt uns der Film ein in eine fremde und doch seltsam vertraute Welt. Michael ist der klassische Mann ohne Eigenschaften: Im Büro wird er für seine Sachkenntnisse im Versicherungswesen geschätzt, auch wenn er nicht ganz zu einem Freundeskreis dazugehört, kann er sich doch gut genug anpassen, um nicht negativ aufzufallen. Auf Ordnung, Kontrolle und Disziplin legt er nicht nur in seiner Beziehung zu Wolfgang, seinem Opfer, großen Wert. Gleichzeitig zeigt er zu Hause hinter den heruntergelassenen Jalousien eine enorme Bandbreite an teils widersprüchlichen Gefühlen: Das geht von Verständnis, fast schon Zärtlichkeit beim gemeinsamen Herumalbern bis zur absoluten Grausamkeit, mit der er Wolfgang eintrichtert, dass er die Briefe des Jungen immer abschicke, dass jedoch seine Eltern nichts mehr von ihm wissen wollten. Die sexuelle Ausbeutung wird nicht ausgespart, aber auch nicht explizit gezeigt, was den Film nur noch beklemmender macht, weil er einem trotz seiner Detailtreue Raum lässt, sich vieles vorzustellen.

Als langjähriger Casting Director war Markus Schleinzer für die Besetzung u.a. für Das weiße Band, Ein Augenblick Freiheit oder Die unglaubliche Entführung der Frau Elfriede Ott zuständig. Michael erinnert mit seinen langen Plansequenzen, der ruhigen Kamera und der minuziösen Beschreibung der Alltagsroutine auch ein wenig an frühe Filme von Michael Haneke. Allerdings ist Schleinzers Blick auf seine Figuren weniger kühl und mitfühlender, sofern dieses Wort in diesem Kontext überhaupt passend erscheint. Michael hat eine Grenze überschritten. Der Film verharmlost seine Tat keineswegs, trotzdem bekommt man ein Gefühl für die enorme Einsamkeit dieses Mannes, der nur auf derart abstoßende Weise eine wirkliche Beziehung zu einem anderen Menschen aufbauen kann. Und in dieser genau beobachteten Beziehungsstruktur können sich wohl die meisten Zuschauer selber wieder finden, das ist wohl das Verstörendste an diesem vielschichtigen Werk, das auch dramaturgisch, einem Puzzle ähnlich, bestens funktioniert.

 


 

Interview mit Markus Schleinzer

Was war der Ausgangspunkt für diesen Film?
Markus Schleinzer: Im Jahr 2008 konnte man keine Zeitung, keinen Bildschirm anschauen, ohne sofort missbrauchte, verschwundene Kinder zu sehen. Es war für mich ziemlich schockierend, dass ich auch so jemand bin, der, von den reißerischen Titeln angezogen, in diversen Hochglanzmagazinen blättert, um dann draufzukommen, dass die Überschrift noch das Spannendste am ganzen Artikel war. In weiterer Folge fand ich es auch interessant und absurd, dass dies – bis auf einen Text von Elfriede Jelinke über den Fall Fritzl – die einzige Rezeptionsebene in kultureller Hinsicht sein sollte. Ich wollte einen anderen Blick auf dieses Thema ermöglichen.

Das Drehbuch haben Sie sehr schnell geschrieben. Sind Sie eher von Situationen ausgegangen oder vom Charakter der Hauptfigur?
Markus Schleinzer: Ich wollte nichts schreiben, das mit dem spannungsgeladenen Moment der Entführung zu tun hat, oder mit den ersten Maßregelungen, so ein Wesen zu domestizieren. Die Tränen eines Kindes, das gegen eine Stahltür hämmert und schreit: „Lass‘ mich gehen!“ wollte ich auf keinen Fall zeigen. Mich hat viel mehr interessiert, wie das denn ist, wenn die beiden schon längere Zeit miteinander verbracht haben wenn sich so etwas wie eine Beziehung eingeschlichen hat, die für beide sicherlich Unterschiedliches bedeutet. Beziehung spiegelt sich in der Betrachtung sehr stark in Alltagssituationen, und ich habe einfach begonnen, Bilder zu beschreiben, die von Routine erzählen. Die Störfaktoren in diesen Bildern waren dann immer Notwendigkeiten, wenn Michael das Kind etwa in den Keller statt ins Kinderzimmer begleitet und dann „Gute Nacht“ sagt, dabei aber eine Stahltüre zumacht. Der Ausgangspunkt waren also eindeutig Situationen, wobei der Schreibprozess sehr flüssig war und von der ersten Fassung noch sehr viel im fertigen Film drinnen ist, die ersten sechs Bilder und auch der Schluss nahezu unverändert.

Wie sind Sie dann zum Charakter der Hauptfigur gekommen?
Markus Schleinzer: Das war ein Sprung, der auch mit einer gewissen Verweigerung zu tun hatte. Das ist kein Charakter, der durch federführendes Handeln deutlich wird wie ein Adam Sandler, der sagt: „Hallo, das ist meine Komödie. Kamera, geh‘ da hin, wo ich bin, ich führe euch jetzt durch den Film!“. Der Zuschauer bleibt eher in Beobachtungsposition, manchmal rutscht man näher an Michael heran, als einem lieb ist, aber meistens kann man in einer therapeutischen Distanz bleiben. Ich habe für mich sehr schnell entschieden, einen Charakter zu bauen, der nichts anderes will als wir: nicht allein sein. Diese Menschen können sich ihre Schuld nicht eingestehen und sich die ganze Tragweite ihres Handelns nicht bewusst machen. Wären sie dazu in der Lage, würden sie damit aufhören, sich umbringen, das Kind töten … was auch immer. Mein Ausgangspunkt war also dieser absolute Wunsch nach Beziehung in etwas, was sich mir nicht als Normalität erschließt, so jemandem aber als normal erscheinen muss, weil die Normalität das Verbrechen immer übertüncht und verdeckt. Das Streben nach fiktionaler Normalität haben wir doch alle. Wenn wir heute in den Baumarkt gehen und uns die nächsten Tapeten fürs unser Wohnzimmer aussuchen, sind wir ja schließlich genauso kreative Erschaffer unserer eigenen synthetischen Idylle.

Es muss schwierig gewesen sein, sich in die Figur hineinzuversetzen, sich zu überlegen, was man an seiner Stelle tun würde.
Markus Schleinzer: Bei ihm dreht sich alles um Kontrolle. Er muss eine eigene Welt erschaffen – nach innen und nach außen. Ich wäre nicht mehr in der Lage, zu erkennen, wo ich real bin: in der Berufswelt, in der Familienwelt, in der Welt der Bekannten und Freunde, vor denen ich etwas verheimlichen muss und folglich nie natürlich sein kann oder zu Hause im Gefängnis meiner Begierden. Ich bin in der Außenwelt letztendlich genauso kontrolliert, wie ich die Innenwelt kontrollieren muss, denn bevor das Kind aus dem Keller geholt werden darf, muss man schauen, ob alles abgesperrt ist. Die Figur ist auch eine Summe von Übernahmen, von Haltungen, wie man vermeintlich zu sein hat. Er wird im Büro auch im Raucherkammerl mit irgendwelchen Typen herumstehen, die halblustige Witze machen, die er dann weitertransportiert, um sich anzupassen.
Natürlich ist es ein extremes Fallbeispiel, zu sagen, man berichtet über eine Beziehung zwischen einem Pädophilen und einem 10-Jährigen Buben, aber letztendlich findet sich diese Art von Kontrolle in vielerlei Beziehungsformen. Das war für mich auch ziemlich beeindruckend, dass überall auf der Welt Menschen auf mich zugekommen sind, die gesagt haben, dass es unheimlich war, wie sie im Film Teilaspekte von sich selbst und ihren Beziehungen wiedergefunden haben. Entweder zu einem realen Partner auf Augenhöhe oder auch zu ihren Kindern.

Ganz früh schon gibt es eine Sequenz, in der Michael seinen Penis säubert. Das ist eine der erschreckendsten Szenen, eben weil man den Missbrauch selbst nicht sieht, ihn sich aber vorstellen muss.
Markus Schleinzer: … und weil es nicht um die Lust geht. Es ist etwas Faktisches. Man hat die Begierde gestillt und jetzt geht es darum, dass man sich auch wieder sauber macht. Die meisten Leute waschen sich nach dem Sex. Das ist etwas, was vertraut und logisch erscheint. Das ist das Erschreckende. Dass die Dinge, die uns logisch erscheinen und uns nicht überraschen, uns erschrecken können. Diese ganze Normalität, die hier über einen hereinbricht. Dass Leute sagen, sie haben in dem Film Gläser entdeckt, aus denen sie selber trinken – dafür kann ich nichts. Im Gegenteil: Ich kann schon was dafür. Es war ja mein Ansinnen, etwas hinzustellen, zu dem man nicht so leicht auf Distanz gehen kann, sondern wo man durch Identifikationsmöglichkeiten an so eine Figur herangerückt wird. Das will man nicht, das ist schmerzlich.

Wie haben Sie Ihren Hauptdarsteller gefunden?
Markus Schleinzer: Es ist mir in 17 Jahren als Casting Director nie passiert, dass ein Regisseur oder Autor kam, der gesagt hat: „Das habe ich für einen bestimmten Schauspieler geschrieben“. Ich habe nie verstanden, warum die Leute nicht wissen, wer ihre Hauptrollen spielen könnte. Und was mache ich? Ich schreibe ein Drehbuch und habe nachher auch keine Ahnung, wer diese Figur verkörpern könnte. Von den vielen Leuten, die ich kenne, kam keiner in Frage. Dann war ich in einer Vorjury zum Filmakademie-Festival und habe Michael Fuith in Das große Glück sozusagen gesehen. Eine sehr gefährliche Rolle, die er bravourös gespielt hat. Ich war mir sofort sicher und habe auch keinen anderen mehr gesucht. Am Anfang war er gar nicht so begeistert und hat gesagt, er muss erst einmal mit Freunden und Familie besprechen, was diese Rolle für ihn bedeutet. Das fand ich sehr ehrenhaft. Er hat sich zwei Wochen Bedenkzeit erbeten und mir danach gesagt, dass er das sehr gerne machen würde. Er hat sehr viel trainiert und einiges abgenommen, damit er wie ein Mensch wirkt, der einer gewissen Norm entspricht und nicht äußerlich in irgendeine Ecke gedrängt werden kann, wo man sagen kann: „Ah, solche sind das!“.

Welche Vorteile haben Ihre Erfahrungen als Casting Director für den Prozess des Regieführens gebracht?
Markus Schleinzer: Ich bin nicht leicht zu überzeugen oder durch Manierismen zu beeindrucken und habe gute Ohren. Ich höre, wenn etwas nicht richtig klingt. Insofern habe ich das Gefühl, dass Lügen oder Unstimmigkeiten für mich leichter zu enttarnen sind, wobei ich mich sicher viele Male geirrt habe im Lauf meiner Karriere.

Wie stehen Sie dazu, dass Pädophilie nach wie vor ein Tabu­thema in unserer Gesellschaft ist?
Markus Schleinzer: In jeder Gesellschaft gibt es Tabus, die einen Sinn haben. Ein Tabu ist ja per se nichts Negatives. Auch wenn es im alten Griechenland eine Phase gab, in der Geschlechtsverkehr mit Kindern sanktioniert war – wir haben uns für unsere Gesellschaft dagegen entschieden. Ich lebe in dieser Gesellschaft, dieses Tabu ist ein Teil von mir. Es darf aber kein Tabu sein, darüber zu berichten. Im Gegenteil glaube ich, dass der Bericht darüber oder der Blick darauf vielleicht auch helfen können, zukünftige Täterschaften zu unterbinden. Michael Haneke hat gesagt, man kann alles erzählen, man muss nur wissen, wie man es macht. Ich weiß nicht, ob ich ihm da hundertprozentig zustimme. Ich glaube, man muss empfinden, was für einen selbst richtig ist, die richtige Empathie haben. Davon wird das Machen bestimmt.

Haben Sie sich damit beschäftigt, ob Pädophilie genetisch bedingt ist?
Markus Schleinzer: In der Vorbereitungsphase gab es noch sehr stark die medizinische Vorgabe: Es liegt in den Genen. Vor Cannes kam gerade ein neues Ärztebuch heraus, das man von dieser allgemeinen Aussage doch Abstand halten sollte. Man hat eine gewisse Region im Gehirn ausgemacht, die dafür verantwortlich ist. Fakt ist, dass Pädophilie nicht durch Erziehung oder Wesensprägung entsteht, dass es in einem drinnen ist, dass man aber die freie Wahl hat, es zu leben oder nicht. Diese Genetik-Diskussion kann man auch instrumentalisieren, wie das Sarkozy in einem Wahlkampf tat. Er meinte, man könne in dem Wissen, dass Pädophilie in den Genen liegt, zukünftige Straftäter verhindern, in dem man sie abtreibe. Die Pädophilen darf man einer Gesellschaft nicht zumuten, treiben wir sie ab. Wer will eigentlich Homosexuelle? Die tragen ja nichts zur Gesellschaft bei. So einen Umgang mit diesem Thema finde ich beängstigend. Das, was Angst macht, ist Angst. Das kann ich als Hypochonder bestätigen. Ich hatte in meinem Leben tausendfach Angst vor Arztbesuchen, und in dem Moment, in dem mir ein Arzt ganz faktisch, sachlich, höflich die Diagnose unterbreitet hat, war die Angst weg. Aber nicht, weil ich immer gesund war. Manchmal war ich auch krank, aber es war jemand da, der unaufgeregt über die Routine, über den Umgang mit der Krankheit gesprochen hat. Angst macht Angst. Ob Wahrheit immer Angst macht, das wage ich zu bezweifeln.