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Der Gott des Gemetzels

Der Gott des Gemetzels

Der Diskrete Schrecken der Bourgeoisie

| Brigitte Auer |

Roman Polanski inszeniert Yasmina Rezas Erfolgsstück „Der Gott des Gemetzels“ als Chronik einer Eskalation mit Starbesetzung: Christoph Waltz darf (wieder) Kuchen essen, Jodie Foster ihre Schlagadern gefährlich hervortreten lassen, Kate Winslet kehrt ihr Innerstes nach außen, und John C. Reilly verkauft Haushaltswaren. Ein Vergleich von Leinwand und Bühne.

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Nehmen wir eine Tragödie und beschleunigen sie, so haben wir eine Komödie.“ Roman Polanski beherzigt im Alter von 78 Jahren dieses Rezept Eugène Ionescos, des Altvorderen im absurden Theater, ohne aus der Puste zu kommen. Bevor es allerdings lustig wird, muss ein wenig Blut vergossen werden: Ein elfjähriger Junge schlägt einem zweiten mit einem Stock zwei Zähne aus. Notgedrungen treffen sich daraufhin die Eltern, um die Wogen zu glätten und einen Bericht für die Versicherung zu verfassen. Doch von Zerknirschung und Schuldbewusstsein auf der Seite von Nancy und Alan Cowan, den Eltern des „Täters“, sowie Verständnis und Kompromissbereitschaft bei Penelope und Michael Longstreet ist bald nichts mehr zu spüren. Immer wieder davon abgehalten, zu gehen, lassen die Cowans die Situation unaufhaltsam und unaufhörlich bis ins Groteske eskalieren. Schnell sind die Manieren beim Teufel, der Blackberry liegt in der Tulpenvase, Kotze auf dem Kokoschka und zivilisiertes Verhalten ist bloße Erinnerung an etwas, das so oder so nie richtig funktioniert hat.
Isolierung und Lagerkoller sind Themen, die Polanski – unglücklicherweise nicht nur auf sein Werk bezogen – schon immer begleitet und beschäftigt haben. Der Einfluss von enger bis klaustrophobischer Umgebung auf die mentale und körperliche Verfassung ist besonders in seiner sogenannten „Apartment Trilogy“, bestehend aus Repulsion (1965), Rosemary’s Baby (1968) und The Tenant (1976), manifest, taucht aber auch später wiederholt auf. Dass die stilistische Bandbreite als Regisseur weit mehr als nur „Psycho-“, wahlweise in den Geschmacksrichtungen Drama, Thriller oder Horror, umfasst, ist ebenso bekannt und in Bezug auf Komödiantisches beispielsweise mit der Vampirfilm-Persiflage Dance of the Vampires (1967, auch bekannt als The Fearless Vampirekillers, Or: Pardon Me, But Your Teeth Are in My Neck) bewiesen. Die dritte Komponente – neben Kammerspiel und schwarzem Humor – die Polanskis neuen Film beschreibt, ist das Theatrale. Adaptionen von Bühnenstücken sind schon mal keine Neuigkeit für Polanski: 1994 drehte er ebenfalls kammerspielartig Death and the Maiden nach dem Stück des chilenischen Autors Ariel Dorfman über das ambivalente Verhältnis von Schuld, Leid und Rache, am Beispiel eines Folteropfers, das seinen ehemaligen Peiniger wiederzuerkennen glaubt. Carnage basiert jedoch nicht lediglich auf einem Theatertext, sondern versprüht auch selbst eine gewisse Theateraura – mit allen Vor- und Nachteilen, die dies für das Medium Film mit sich bringt.
Einer der Gründe für besagte Aura liegt in Polanskis Art der Vorbereitung. Vor Drehbeginn probte er zwei Wochen lang mit seinen Schauspielern und ließ sie ihren gesamten Text auswendig lernen. Die Regie wurde zum großen Teil ebenfalls schon festgelegt, sodass Polanski sich in der Folge hauptsächlich auf Perspektive und Kameraführung konzentrieren konnte. In chronologischer Reihenfolge gedreht, spielt der gesamte Film (bis auf die Einzelszenen zu Beginn und am Ende) in Echtzeit, weswegen sich die Entwicklung der Charaktere und die schrittweise Aufdeckung ihrer Makel organisch anfühlt, wenn auch nicht durch und durch realistisch – aber es handelt sich schließlich um eine Gesellschaftssatire. Und diese wurde in ihrer filmischen Übersetzung (das Drehbuch verfasste Polanski gemeinsam mit Yasmina Reza) nur marginal gegenüber dem Original verändert. Der ursprüngliche Handlungsort Paris wurde nach Brooklyn verlegt – musste aber aus bekannten Gründen ironischerweise im Studio in Paris gedreht werden. Die Protagonisten tragen englische Namen, essen Cobbler statt Clafoutis und trinken zu viel Scotch anstatt Rum. Das Ergebnis ist dasselbe.

„Das Kotzen ist Ihnen aber gut bekommen.“

Der Schauplatz ist die Wohnung von Penelope und Michael Longstreet, dargestellt von Jodie Foster und John C. Reilly.  Um ein für Publikum und Schauspieler gleichermaßen glaubwürdiges Ambiente zu schaffen, wurde im Studio nicht nur eine Wohnung samt aller Wände, funktionierender Küche und ebensolchem Badezimmer gebaut, sondern diese sogar mit extra aus New York importierten Gegenständen bestückt. Die Einrichtung spiegelt hauptsächlich Penelopes Charakter und Vorlieben wider und deutet in dessen Auslassung auch den Stellenwert ihres Mannes an. Sie ist die politisch überkorrekte Aktivistin, die sich in ihren Büchern für afrikanische Zivilisationen und Konfliktfelder einzusetzen versucht und ihre Kunstbände in großen Stapeln zur Schau stellt, er verkauft Haushaltswaren. Nancy Cowan (Kate Winslet) ist Börsenmaklerin, ihr Mann Alan (Christoph Waltz) vertritt als Anwalt gerade eine Pharmafirma, was durch seine permanenten Telefonate im Lauf der Zeit zu unterschiedlichen Ausbrüchen führt. Überdeutlich fällt auf, dass die Figuren kaum typgerechter besetzt hätten werden können: Waltz darf wieder einmal Kuchen essen und seine große wie großartige Bandbreite an Zynismus und süßlichem Sadismus zur Schau stellen – und sagt dabei als Einziger von Anfang an, was er denkt. Winslet, geprägt von Schuldgefühlen, aufgrund ihrer Karriere ihr Kind zu vernachlässigen, zeigt unterdrückte Frustration (ähnlich ihrer ausgezeichneten Rolle in Mildred Pierce) und widerwillige Demut – zumindest bis Übelkeit und Alkohol als Katalysatoren fungieren. Die innere Anspannung von Fosters Charakter ist dafür von Beginn an deutlich sichtbar und der Ausbruch (oder Schlaganfall, wenn man die beinahe angsterregend pumpenden Adern an Hals und Stirn betrachtet) nur eine Frage der Zeit. Aber was bringt diese vier kultivierten Menschen mittleren Alters dermaßen an die Grenzen allen guten Benehmens und jeglicher Moral? Die Antwort liegt in einer Mischung von „Würgeengel“-Motiven und Milgram-Experiment. Luis Buñuels El àngel exterminador (1962) versammelt eine Abendgesellschaft, die aus unerfindlichen Gründen ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen kann und in Folge von Hunger und Lagerkoller jegliche Zivilisiertheit aufgibt. Im Film kommt es zu Toten, für Buñuel ging die Handlung in der Rückschau jedoch nicht weit genug und sollte seiner Meinung nach bis zum Kannibalismus führen. Auch die Cowans versuchen wiederholt, sich zu verabschieden, gelangen jedoch nie weiter als bis zum Lift. Jedes Mal werden sie zurückgehalten, nicht durch den Raum, sondern durch die Sprache: unwillige Höflichkeit im Angesicht von Kaffee und Kuchen, Schuldgefühle, spitze Andeutungen, die sie nicht auf sich sitzen lassen können und der Zwang, das letzte Wort zu haben. Und so dreht sich die Eskalationsspirale und führt von Halbsätzen und kleinen giftigen Kommentaren zu offenen Feindseligkeiten, wüsten Beschimpfungen und körperlicher Gewalt. Am spannendsten zu beobachten sind die sich konstant verschiebenden Allianzen, bis zum Schluss jeder jeden hasst.

Die Kunst der schmutzigen Kriegsführung

Die Inszenierung des 2010 verstorbenen Regisseurs Jürgen Gosch am Schauspielhaus Zürich läutete 2006 den weltweiten Erfolg des Stücks ein. Aufführungen und Auszeichnungen in London (besetzt unter anderem mit Ralph Fiennes) und am New Yorker Broadway (mit James Gandolfini, der die Figur des Michael mit einer hervorbrechenden Gefährlichkeit unterlegte, die Reilly leider fehlt; aber schließlich kann nicht jeder Mafia-Boss-Blut in den Adern haben …) folgten. Goschs Uraufführung bestach durch die räumlich karge Ausstattung beinahe als Anti-Kammerspiel und hat im Gegensatz zum Film den klaren Vorteil, permanent die gesamte Gruppenkonstellation im Bild zu behalten. Polanskis häufige Entscheidung, nur eine oder zwei der Personen (manchmal mit dem unfokussierten Spiegelbild einer dritten) ins Bild zu rücken, nimmt dem Stück einiges an Tiefenschärfe. Größeres Augenmerk ist auf den – im Gegensatz zur Theatersituation sichtbaren – gestischen und mimischen Detailreichtum, auf die Psychologie des Individuums gelegt, was Gosch oft durch slapstickartige Komik ersetzte.
Fundamental sind jedoch zwei kleine Entscheidungen Polanskis: Zu Beginn zeigt er, wie bereits erwähnt, den auslösenden Zwischenfall mit den beiden Jungs, wenn auch aus der Distanz und ohne Ton; auf der Bühne beginnt die Handlung mit den Elternpaaren, die an den Formulierungen für den Unfallbericht feilen (und feilschen). Dadurch fehlt dem Film die Ambiguität über die wirkliche Täter-Opfer-Konstellation, die im anderen Fall fortwährend mitschwingt, während die Erwachsenen mit der Rekonstruktion des Geschehens und der Frage nach der (Mit-)Schuld beschäftigt sind. Die zweite Veränderung betrifft manche Andeutungen und rassistische bzw. homophobe Zwischentöne, die entschärft oder ausgelassen wurden und so nicht zeigen, wie weit die Figuren wirklich zu gehen bereit sind.
Die Legende will es, dass ein Mann hohen Dienstgrads der deutschen Bundeswehr beim Dramaturgen eines großen Theaters anrief und fragte: „Ich habe gehört, Sie spielen „Der Gott des Gemetzels“. Wär’ das was für meine Jungs?“ Zu lernen gäbe es für die „Jungs“ wohl ausschließlich die Kunst der Kriegsführung mit schmutzigen Waffen und eine Lektion über die Illusionen, die Menschen über sich selbst hegen, bis ihre Ehe-, Selbstwert- und Erziehungsprobleme aus der liberalen Maske des Bildungsbürgertums hervorbrechen.
Wiederholt wurden Vergleiche mit Who is Afraid of Virginia Woolf? (Mike Nichols, 1966) bemüht. Diese greifen jedoch zu kurz, wenn nicht sogar ins Leere. Polanski erfindet mit Carnage weder das Kammerspiel noch die menschliche Grausamkeit neu und doch gelingt ihm, was er schon in Rosemary’s Baby hervorragend inszeniert hat: das Aufeinandertreffen zweier Ehepaare in einer engen Wohnung, woraufhin etwas Teuflisches entsteht. Nur ist das diesmal auch zum Lachen.