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Margin Call

Rote Zahlen in leuchtender Nacht

| Alexandra Seitz |

Wie entsteht eine Finanzkrise? Was ist ein Wirtschaftskrimi? Und was hat beides mit dem Katastrophenfilm zu tun? Antworten auf diese Fragen gibt „Margin Call“ von J.C. Chandor.

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Das Online-Börsenlexikon der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erklärt den Begriff „Margin Call“ wie folgt: „Entwickelt sich ein Terminkontrakt zu Ungunsten des Anlegers, wird der Verlust aus seiner Marge gedeckt. Sinkt dadurch der Saldo des Margenkontos unter die sogenannte Erhaltungsmarge, wird der Anleger aufgefordert, Geld nachzuzahlen.“ Hm, nicht wirklich erhellend, oder? Es sei denn, man kennt sich aus mit der Terminologie. Andernfalls funktioniert dieser Lexikoneintrag nach dem Schneeballsystem: Was ist ein Terminkontrakt? Was eine Marge? Und was genau bedeutet Saldo? Gut, wer regelmäßig seinen Dispo überzieht, weiß zumindest, was es heißt, wenn das Soll das Haben übersteigt: Rote Zahlen auf dem Kontoauszug. Den Rest der Begrifflichkeiten lassen wir einstweilen mal beiseite. Denn zum Verständnis des Nachfolgenden wie zum Verständnis von J.C. Chandors Margin Call ist letztlich nicht mehr vonnöten, als die Bedeutung der Worte „Hybris“, „Gier“, „Skrupellosigkeit“ und „Korrumpierbarkeit“ zu kennen.

In seinem Debütspielfilm, zu dem er auch das Drehbuch schrieb, zeichnet Chandor nach, was sich im Jahr 2008 im Verlaufe verhängnisvoller 24 Stunden in den Räumen einer an der New Yorker Wall Street beheimateten Investmentfirma zuträgt. Es beginnt gespenstisch ruhig mit einem Aufmarsch unbeteiligt, doch entschlossen dreinblickender Leute, deren Profession die praktische Abwicklung von Personalabbau, sprich: das Entlassen anderer Leute ist. Dabei trifft die resignative Verzweiflung der Gekündigten auf eine fast unverhohlene Bedrohung durch die Kündiger, werden die effizienten Vorgänge routinemäßiger Existenzvernichtung als menschenverachtende, würde- und respektlose Praxis im Kontext kapitalistischer Entfremdung sichtbar. Es ist ein Blutbad, es vollzieht sich in großer Stille – und es ist nichts im Vergleich zu dem Gemetzel, das folgen wird.

Bevor er von der durch die Firma schwappenden Entlassungswelle aus dem Gebäude gespült wird, übergibt der Risikoanalyst Eric Dale (Stanley Tucci) mit den warnenden Worten „be careful!“ seinem Mitarbeiter Peter Sullivan (Zachary Quinto) einen USB-Stick mit den Daten des letzten Projektes, an dem er gearbeitet hat. Nach Büro- und Handelsschluss schaut sich Sullivan Dales Berechnungen an und stellt fest, dass die Bewertungen der Hypotheken des Immobilienbestandes der Firma fehlerhaft sind. Genauer: Die Formel, die die Firma zur Risikoberechnung des Saldo anwendet, vermag bislang unbemerkt gebliebene, extreme Ausfallsrisiken bestimmter Investments nicht mehr zu erfassen. Der Margin Call ist längst schon ungehört verhallt. Das Unternehmen steht am Rande des Ruins. Rote Zahlen! Tiefrote Zahlen! Derart tiefrot, dass über kurz oder lang das gesamte globale Finanzwirtschaftssystem in Mitleidenschaft gezogen werden wird.

Nicht weniger hat sich Chandor vorgenommen, als beispielhaft nachzuvollziehen, wie es zum Umfallen eines jener Dominosteine kommen konnte, die 2008 eine uneinholbare Kettenreaktion namens „Finanzkrise“ auslösten, deren Auswirkungen uns in ihrer erschreckenden Dimension nach wie vor vor Augen stehen. Zum Glück für all jene, die in diesem Metier nicht bewandert sind, geht es Chandor dabei jedoch weniger um die historischen und/oder wirtschaftswissenschaftlichen Details, als vielmehr um die Grundlagen des Systems, das da ins Trudeln gerät. Das heißt, es geht ihm in Margin Call um die Verantwortlichen und die Verursacher, um Entscheidungsträger und deren Schuldigwerden. Um Menschen.

Chandor macht aus der Not eine Tugend und nutzt die mittelbedingte, raum-zeitliche Beschränkung seines Erstlingsfilms zur Verdichtung. Auf der Grundlage seines hervorragenden Drehbuchs vollzieht er den Versuch einer Rettung, die in den Untergang führt, wie in einem Kammerspiel nach. Kühl, methodisch und beklemmend werden, entlang der Schnittstellen von Angst-um-den-Arbeitsplatz, Unternehmenspolitik und Bewegungsmechanismen des internationalen Kapitals, die herrschenden Machtstrukturen immer feiner ausdifferenziert.

MORGENLICHT UND BARTSCHATTEN

Was macht Peter Sullivan mit seiner erschreckenden Erkenntnis einer drohenden Pleite? Er ruft seinen Chef an, der den Feierabend in einer Bar begeht, aber rasch wieder stocknüchtern wird, als er die Zahlen sieht. Also ruft er wiederum seinen Chef an, der wiederum seinen Chef anruft, und so fort. Bis schließlich tief in der Nacht ein Hubschrauber mit dem Big Boss an Bord auf dem Dach des Hochhauses landet. Bereits hier, auf dem Weg durch immer größere Konferenzräume auf immer höher gelegenen Etagen mit immer dickeren Teppichen und immer luxuriöseren Ledersesseln, in denen immer mehr Menschen mit immer noch betreteneren Mienen sitzen, vollzieht sich die Kettenreaktion. Dramaturgisch entschleunigt von Unterbrechungen: vom Warten auf das Eintreffen der nächstwichtigen Person, vom Blick auf die nächtliche Schönheit der erleuchteten Stadt, von der Reflexion eines gottgleichen Wissensvorsprungs gegenüber den Ahnungslosen unten auf den Straßen. Währenddessen wandert die Verantwortung durch die Büros, bis sie schließlich hoch oben bei einem Funktionsträger ankommt, der über genügend Zynismus, Skrupellosigkeit und, vor allem, die nötigen Mittel verfügt, eine Entscheidung zu fällen: Die „toxischen Papiere“ müssen abgestoßen und blitzschnell verkauft werden. Der schwarze Peter wird weitergeschoben; und wenn man Glück hat und die „Kollegen“ auf der Wall Street den Braten nicht allzu schnell riechen, kommt man am Ende dieses schwarzen Tages zwar mit finanziellen Verlusten und beschädigtem Ruf, aber doch mit einigermaßen heiler Haut aus der Sache heraus. Was danach passiert? Nach mir die Sintflut. „It’s just money“, sagt John Tuld (Jeremy Irons), der CEO, der derart viel davon hat, dass ihm trotz seines dringend überfälligen Haarschnitts keiner zu widersprechen wagt.

Der ebenso gruselige wie vorhersehbare Witz an dieser Abfolge von Krisensitzungen ist, dass die Ahnungslosigkeit der Beteiligten direkt proportional zu ihrer Machtfülle wächst. Tuld macht daraus auch gar kein Hehl und verlangt von Sullivan, ihm das Problem auf die denkbar simpelste Weise zu erklären, denn: „I don’t get any of this stuff.“ Sullivan wiederum ist ausgebildeter Raketenwissenschafter; noch so ein unheimlicher Gag, wird „rocket science“ im Englischen doch sprichwörtlich verwendet für etwas Hochkompliziertes, für Laien Unverständliches.

In seiner Filmbesprechung in der „Berliner Tageszeitung“ zitiert Georg Seeßlen Regisseur Chandor mit den Worten: „Die Maschine, von der diese Menschen ein Teil sind, ist derart groß und komplex geworden, dass niemand die zerstörerische Macht begreifen konnte, die von ihr ausging. Bis es zu spät war.“ Seeßlen entgegnet: „Weniger freundlich kann man es auch umgekehrt sagen: Die Menschen, die eine solche Maschine bedienen, sind so beschränkt, trivial und charakterlos, dass die Katastrophe unausweichlich wird.“

Sehr gut möglich, dass es sich in der Wirklichkeit so verhält. Im Kino aber kommt man mit beschränkten, trivialen und charakterlosen Figuren nicht weit, jedenfalls nicht, wenn man mehr zu sagen hat als „Blockbuster“ und „Mainstream“. Chandor hat wesentlich mehr zu sagen und weiß zudem genau, wovon er spricht, denn sein Vater war fast vierzig Jahre lang für Merrill Lynch tätig.

Dieser Wissensvorsprung kam dem Regie-Neuling zugute, wenn er seinen zwar erfahrenen, dafür aber in der Feinmechanik der Finanzmärkte nicht sonderlich bewanderten Schauspielern – zu denen neben Tucci, Quinto und Irons unter anderem Kevin Spacey, Paul Bettany und Demi Moore zählen – Motivation und Dialog ihrer Figuren erklären konnte. Sie danken es ihm nicht nur mit der Sorgfalt, mit der sie ihre jeweilige Figur vor wohlfeiler und vorschneller Verurteilung schützen, sondern auch mit ihrem sichtlichen Vergnügen am Zusammenspiel im Ensemble. Befördert wurde dies nicht zuletzt vom Drehort, einer im 42. Stock eines New Yorker Bürogebäudes gelegenen, leer stehenden Etage. Statt zwischen ihren Takes mit dem Fahrstuhl nach unten zu fahren, um sich in ihre Trailer zurückzuziehen, verbrachten die Schauspieler ihre Zeit lieber vor Ort und miteinander. Produzent Corey Moosa – dessen gemeinsam mit Zachary Quinto und Neil Dodson geleitete Firma Before the Door Pictures mit Margin Call ihren ersten Film vorlegt – vergleicht die Dreharbeiten mit einer „Sommertheater-Inszenierung“. Und Demi Moore, in der Rolle von Sarah Robertson Leiterin der Abteilung Risikomanagement und letztlich das Damenopfer, meint: „Wir waren unser eigenes kleines Studio hoch oben in den Wolken. Das hatte etwas sehr Intimes.“

Etwas Intimes, das sich als rares Vertrauensverhältnis zwischen aufgeschlossenem Filmemacher, erstklassiger Besetzung und engagierten Produzenten schließlich in einem ebenso klugen wie spannenden Film niederschlägt. Der als solcher nicht bloß deutliches Lebenszeichen des so gern totgesagten US-amerikanischen Independent-Kinos ist, sondern auch der Beweis dafür, dass man kein Raketenwissenschafter sein muss, um einen Börsencrash zu verstehen. Am Ende wird ein Hund begraben. Wenigstens weiß man nun, wo er liegt.