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Boardwalk Empire

History-Serien

Im Rausch des Verbrechens

| Roman Scheiber |

Die HBO-Dramaserie „Boardwalk Empire“ zeichnet das Bild einer durch und durch korrupten Gesellschaft. Die Uferpromenade von Atlantic City und das Jahr 1920 sind Ausgangs- und Angelpunkt des epochalen Werks um Prohibition und Politik, um Bigotterie und Machtmissbrauch.

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Am Strand von Atlantic City, New Jersey, herrschen zu Beginn der zwanziger Jahre strenge Sitten. Wenn eine Frau zum Beispiel mehr von ihren Schenkeln entblößt als fünf Zentimeter über dem Knie, wird ihr prompt ein saftiger Strafzettel ausgestellt. Alkoholkonsum ist nunmehr allgemein verboten, öffentlich verpönt ist er jedoch nur bei Frauen, die auf ihr gesellschaftliches Ansehen Wert legen.

Im spektakulärsten Gebäude der nahen Uferpromenade, erbaut im Stil des europäischen Klassizismus, haben indes die Roaring Twenties begonnen. Hier sieht man die Sache weniger streng: Spärlich bekleidete Frauen setzen sich in mondänem Ambiente Politikern, Gangstern und Geschäftsleuten in den Schoß, und wenn Enoch „Nucky“ Thompson, der inoffizielle Imperator der Stadt, eine Party schmeißt, ist die Auswahl an potenziellen künftigen Konkubinen noch üppiger, sind die Prostituierten nackig, und der Bourbon fließt so oder so in Strömen. Es ist eine Zeit, die von bigotten, mächtigen Männern dominiert wird.

Wie der äußere Schein und die hinter Vorhängen gelebte Realität auseinander klaffen, ist ein gern untersuchter Gegenstand der Erzählkultur; Boardwalk Empire widmet sich ihm auf mustergültige Weise. Demokratie, Gesetz und Moral existieren auf dem Papier, aber nicht in den Köpfen der Figuren – mit Ausnahme jener Frauen, die sich im Kampf gegen Alkohol zur „Women’s Temperance League“ zusammengeschlossen haben oder als Suffragetten um ihr Wahlrecht streiten. In den Gehirnen der Männer hingegen existiert primär das Bedürfnis, sich ein großes Stück des Kuchens zu sichern und dem Selbstbild der Stadt, zu lesen auf einer Tafel an deren Einfahrt, gerecht zu werden: „Welcome to Atlantic City – Playground of the World“. Mit den einflussreicheren Playern, mit korrupten Republikanern, dubiosen Geschäftemachern und bald auch mit Alkoholschmugglern umgibt sich die Hauptfigur von Boardwalk Empire, Nucky Thompson, ein Nachkomme irischer Immigranten (der irisch-italienisch-stämmige New Yorker Steve Buscemi ist hier vermutlich in der Rolle seines Lebens zu sehen). Sein Bruder Eli (Shea Whigham) ist Chef des Sicherheitsapparats, er selbst der Schatzmeister des Seebads südlich von New York, und de facto ist er der Boss. Wenn jemand etwas will, geht er zu Nucky. Wenn ein Problem aufpoppt, wird Nucky um Rat gefragt. Nucky hat sie alle in der Tasche. Als der Volstead Act, mit dem Herstellung, Verkauf und Transport von Alkohol verfassungsmäßig verboten werden, zu Neujahr 1920 in Kraft tritt, richtet er eine Feier aus und verkündet vollmundig: „Wir werden dafür sorgen, dass diese Stadt feucht bleibt wie die Möse einer Meerjungfrau.“

Grandioses Period Piece

Boardwalk Empire spannt die Ära der Prohibition und die Frühgeschichte des organisierten Verbrechens an der Ostküste wie ein opulentes Leporello vor dem Publikum auf. Die Serie demontiert den Mythos des amerikanischen Traums, indem sie seine Herkunft nicht im viel beschworenen, hehren Pioniergeist verortet, sondern in Machtmissbrauch und Profitgier, die auch vor brutaler (und hier natürlich grafisch expliziter) Gewalt nicht Halt machen. Wohlrecherchierte Basis des epochalen Werks ist Nelson Johnsons Sachbuch „Boardwalk Empire: The Birth, High Times, and Corruption of Atlantic City“, das sich umfassend mit der politischen und mafiösen Historie der Stadt beschäftigt. Nichts lag näher für HBO, Terence Winter als Mastermind für die TV-Adaption zu verpflichten, jenen Mann, der am bislang größten Erfolg des Senders maßgebend als Autor und Produzent beteiligt war: The Sopranos. Unterstützt wird Winter von Tim Van Patten, der zwanzig Sopranos-Folgen inszeniert hat, und von Martin Scorsese – der bekannteste Mafiafilmemacher der Welt hat den Piloten gedreht und gehört zum Produktionsteam.

Nach der postmodernen Verfallsgeschichte des organisierten Verbrechens (samt Psychotherapie für den Boss) widmet Winter sich also dessen Wurzeln 80 Jahre davor, ohne den kleinen Bundesstaat New Jersey wechseln zu müssen. Die später berühmten Mafia-Kapitäne sind hier noch aufstrebende Handlanger, allen voran der tatendurstige, temperamentvolle Al Capone (Stephen Graham) und der schnippische Halb-Sizilianer Lucky Luciano (Vincent Piazza), der sich beim jüdischen Wettbetrüger Arnold Rothstein (köstlich pseudohöflich: Michael Stuhlbarg) hochdient.

Boardwalk Empire nimmt sich ein paar Episoden lang Zeit, um sich ganz allmählich als grandioses Period Piece vor dem Publikum zu entfalten. Man könnte die vielfach preisgekrönte Produktion weniger als Fortsetzungsserie betrachten als vielmehr einen einzigen – in bislang 24 Teile gegliederten – fortdauernden Film darin sehen (eine dritte Season ist in Entstehung). Das liegt umso näher, als sie nur vereinzelt überhängende Episoden-Enden aufweist und eher in Kapitelform strukturiert erscheint. Vor allem aber erfüllt sie alle wesentlichen cineastischen Qualitätskriterien: Der ungeheure Aufwand (kolportierte 70 Millionen Dollar hat allein die erste Season gekostet) findet seine Entsprechung in detailgetreu nachgestellten, völlig authentisch wirkenden Schauplätzen, in sorgfältig entwickelten und gezeichneten Charakteren und in der (ganz überwiegend chronologischen) Parallelführung immer wieder fein ineinander versponnener und entwirrter, im Verlauf der Serie immer stärker auch melodramatisch gefärbter Erzählfäden. Und in Sachen Kostüm und Ausstattung kann derzeit nur die einem gehörigen Style-Fetischismus verpflichtete Sixties-Show Mad Men mithalten. Ähnlich Bahnbrechendes wie deren Schöpfer Matt Weiner hat übrigens auch Terence Winter mit seiner Serienschöpfung vor. Auf die Frage, ob man von Boardwalk Empire viele Seasons erwarten dürfe, sagte Winter: „Na klar, ich hoffe, dass es Dekaden werden. Die zwanziger Jahre selbst sind ja nur der Hintergrund.“

Imposantes Figurenensemble

In der ersten Season muss Nucky Thompson sich vor allem mit rivalisierenden Schmugglerbanden herumschlagen, aber auch mit dem Bundesagenten Nelson Van Alden, einem zusehends ins Wahnhafte kippenden protestantischen Fundamentalisten (der grandiose Michael Shannon ist auch Hauptdarsteller von Take Shelter, siehe Seite 26). In einem von mehreren historischen Querbezügen spielt auch der Ku-Klux-Klan eine Rolle: Die Kapuzenmänner wollen Nuckys Geschäftspartner Chalky White (mit herrlich zähflüssigem Slang und verquälter Mimik: Michael Kenneth Williams), dem heimlichen Oberhaupt der afroamerikanischen Community von A.C., ans Leder.

In Season zwei sieht Nucky sich mit Wahlbetrugsvorwürfen konfrontiert; nicht zuletzt dadurch erhält seine Beziehung mit der verwitweten Immigrantin Margaret (very Irish: Kelly Macdonald) und ihren zwei Kindern eine überraschende Dimension. Und nachdem seine einstigen Adepten sich gegen ihn verschworen haben, weiten sich die Handelswege des illegalen Alkoholschachers in einem frappierenden, historisch bemerkenswerten Erzählstrang bis über den Atlantik aus: die Prohibition als Katalysator des irischen Unabhängigkeitskampfes.

Aus dem imposanten Ensemble von Boardwalk Empire sei noch ein Figurenquartett hervorgehoben, für das allein schon die Versenkung in den Sumpf des Verbrechens lohnt. Im Zentrum: Jimmy Darmody (Michael Pitt), von klein auf Protegé und rechte Hand von Nucky Thompson. Ein leicht inzestuös anmutendes Verhältnis zu seiner Mutter (Gretchen Mol), die ihn geboren hatte, als sie selbst noch ein Kind war, und die Zweckehe mit der von ihm geschwängerten Studentenliebschaft Angela (hinreißend: Aleksa Palladino) ergibt ein befremdliches Dreiecksverhältnis, das gegen Ende der zweiten Season durch unvermittelt einsetzende Rückblenden in einem neuen Licht erscheint. Für weitere emotionale Wendepunkte sorgt schließlich die Aufnahme des im Ersten Weltkrieg schwer verwundeten Scharfschützen Richard (Jack Huston) in die Familie. Richard muss eine Maske tragen, seit er ohne linke Gesichtshälfte von der Front zurückgekommen ist. Mit ihm – wie mit einigen anderen ambitionierten Gangstern – teilt Jimmy die verrohenden Erfahrungen und die unsagbaren inneren Wunden des Krieges.

Jimmys leere, im Verlauf seines Aufstiegs immer gröber geränderte Augen sprechen Bände über die dunkle Seite des amerikanischen Traums. Vom Preis der Macht indes erzählen die geröteten Augen von Nucky Thompson. Beide schleppen einen Rucksack voll psychischen Ballasts mit sich herum. Die Konfrontation des Schülers mit seinem Meister kündigt sich lange an und kann irgendwann nicht mehr ausbleiben. Sie ist Teil des Finales der zweiten Season. Und dieses Finale, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, gehört zum Besten, was man im Dramaserien-Fernsehen je zu sehen bekommen hat.