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Chronicle

Chronicle

The Boys Can Fly

| Angelika Unterholzner |

Der Überraschungserfolg „Chronicle“ verbindet Superhelden-Genre und Faux-Found-Footage-Film: Statt einen weiteren Marvel-Comic-Helden auf die Leinwand zu hieven, erzählt der junge Regisseur Josh Trank eine multiperspektivische Coming-of-Age-Geschichte.

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Demnächst werden es Batman in The Dark Knight Rises und Spider-Man in The Amazing Spider-Man für jeweils geschätzte 200 Millionen Dollar wieder einmal krachen lassen. Am Box-Office eingeschlagen hat jetzt schon ein Superheldenfilm der etwas anderen Art: Die Faux-Found-Footage-Arbeit Chronicle hat bereits vor ihrem Kinostart in Österreich weltweit über 100 Millionen Dollar eingespielt. Mit seinem Debütfilm hat der 27-jährige Kalifornier Josh Trank damit auch gleich einen Rekord aufgestellt: als bislang jüngster Regisseur, der in Großbritannien jemals einen Nummer-eins-Hit gelandet hat. Am US-Box-Office steht sein Name diesbezüglich unweit hinter Steven Spielberg.

Mit einem Produktionsbudget von kolportierten zwölf Millionen Dollar hat Chronicle zwar rund das Fünffache eines österreichischen Spielfilms gekostet, im Vergleich zu den Budgets US-amerikanischer Major-Studio-Produktionen handelt es sich freilich um einen Spottpreis. Trotzdem ist Chronicle nicht der Independent-Film, als der er sich ausgibt. Die Vertriebsrechte am Newcomer-Hit von Regisseur Josh Trank und Drehbuchautor Max (Sohn von John) Landis hat sich mit 20th Century Fox ein Major-Studio gesichert, das den Film in den USA mit der stattlichen Anzahl von 2.907 Kopien an den Start gebracht hat.

Chronicle ist die düstere Coming-of-Age-Geschichte eines Jugendlichen aus Seattle, der in einem von Krankheit und Übergriffen überschatteten Elternhaus gefangen ist. Andrew (Leo-DiCaprio-Look-alike Dane DeHaan) ist der Trauer um die sterbende Mutter und dem Jähzorn des trunksüchtigen Vaters machtlos ausgeliefert. Er muss aber nicht nur zu Hause jederzeit mit Ohrfeigen rechnen, auch vor Attacken gehässiger Mitschüler an seiner High School ist er nicht gefeit. Der Einzige, der dem gehetzten Jungen eine Verschnaufpause gönnt und ihn auf einen Rave mitnimmt, ist der Philosophie-kundige Cousin Matt (Alex Russell). Tanzen ist aber keine Bewältigungsstrategie, mit der Andrew etwas anfangen könnte, lieber verschanzt er sich hinter seiner Kamera, die einer Barriere zwischen ihm und seiner feindlichen Umwelt gleichkommt. Diese Kamera hat er auch dabei, als er mit Cousin Matt und dessen Freund Steve in ein mysteriöses Erdloch steigt – aus dem die drei mit telekinetischen Fähigkeiten ausgestattet wieder herauskriechen.

Faux-Found-Footage

Chronicle
ist ein pseudodokumentarischer Spielfilm, der vorgibt, hauptsächlich aus dem von Andrew gefilmten Material zu bestehen. Zusätzlich zu diesen „Aufzeichnungen“ kommt im späteren Verlauf der Geschichte „Footage“ von der Videobloggerin Casey (das Love interest von Cousin Matt) dazu. Zum finalen Showdown hin greift die Montage dann willkürlich auf das Material diverser Überwachungskameras zurück. Somit kann Chronicle in seiner Machart als ein weiterer Vertreter dessen gelten, was in US-amerikanischen Filmtexten häufig als Fake- oder Faux-Found-Footage-Film bezeichnet wird. Diese Gattung ist seit The Blair Witch Project (1999) schon oft für einen Überraschungserfolg gut gewesen. Wiewohl inzwischen vom Mainstream aufgesogen und infolgedessen auch schon mal für tot erklärt, dürfte noch die eine oder andere genrespezifische Interpretation der vermeintlichen Nonstop-Laienfilmerei zu erwarten sein: nach [Rec] (Horrorfilm), Cloverfield (Monster-Sci-Fi-Film), Paranormal Activity (Haunted-House-Gruselschocker) ist mit Chronicle nun also der Superheldenfilm an der Reihe. Internetgerüchten zufolge ist übrigens demnächst von den Machern von The Devil Inside eine Werwolf-Variante zu erwarten. In all diesen Filmen geht es – und das macht den vielleicht wichtigsten Unterschied zur Fake-Doku und zur Mockumentary aus – um Unerklärliches und Übersinnliches. Die für Faux-Found-Footage-Filme typische „Wackelkamera“ ist in diesem Kontext nie so zufällig, wie sie zu sein vorgibt, insbesondere gilt das für Chronicle.

Josh Trank, der Werner Herzogs Grizzly Man (2005) als wichtigen Referenzfilm für sein Debüt angibt, hat sich um eine Kameradramaturgie bemüht, die die Entwicklung der Geschichte und der Hauptfigur spiegelt. Der Film beginnt als Alltagsdokumentation eines Jugendlichen, der zunächst nicht im Bild ist. Mit der Transformation der Geschichte ins Fantastische verändert sich jedoch die Perspektive: Aus der Logik der Geschichte bzw. den telekinetischen Fähigkeiten des Protagonisten ergibt sich, dass die Kamera jede Position einnehmen kann. Daraus folgen nicht nur interessante Blickwinkel, sondern auch eine im Verlauf der Entwicklung des Helden passenderweise zunehmend gottgleiche Sicht auf das Geschehen. Chronicle ist ein gutes Beispiel dafür, wie Inhalt und Form bzw. Charakterentwicklung und Kameraführung miteinander korrespondieren können.

 

Birth of a Super-Villain

Mit Superhelden, die in Latexkostümen Verbrecher jagen, haben Andrew & Co. nichts gemein. Noch weniger verbindet sie mit den in Kick-Ass oder Super (beide 2010) entworfenen Figuren, die trotz der Absenz jeglicher Superkräfte als Retter bewundert werden möchten. Dem Trio kommt es gar nicht in den Sinn „Gutes“ zu tun. Nachdem sie festgestellt haben, dass sie nicht nur Gabeln verbiegen, sondern auch Autos verschieben und sich selbst in die Luft heben können, verbringen sie ihre Zeit damit, Kindern und Frauen Streiche zu spielen oder auf Seattles 184 Meter hohe Space Needle zu fliegen. Am meisten Spaß macht es ihnen aber, die Grenzen ihrer neuen Fähigkeiten auszuloten. Dabei kann es schon einmal passieren, dass ihnen ein Flugzeug in die Quere kommt, aber: Hey, no risk no fun. Dass riskante Stunts inklusive Blut und Schlamm bestens beim Publikum ankommen, weiß man seit dem Erfolg des Jackass-Franchise – so sind die drei in ihrem slapstickhaften Treiben denn auch weit davon entfernt, unverwundbar zu sein.

Der Lernprozess, der mit wundersam erlangten Kräften einhergeht, ist Bestandteil vieler Superheldenerzählungen. Wie gewöhnliche Menschen telepathische, telekinetische oder hellseherische Fähigkeiten verkraften, haben wir zuletzt vor allem in der TV-Serie ausführlich vorgeführt bekommen, z.B. in Heroes, Misfits oder No Ordinary Family. Während Superkräfte von Serienhelden nicht selten als Last empfunden werden, fährt das Ensemble in Chronicle voll drauf ab. In Anbetracht der Euphorie der Protagonisten wird regelrecht spür- und vorstellbar, wie mächtig sich unsereiner fühlen würde, wenn … Anders als in den genannten Serien, in denen die Charaktere unterschiedliche Fähigkeiten haben, hat das Gespann in Chronicle dieselbe Begabung. Und bald stellt sich – zum Unbehagen seiner Freunde – heraus, dass es ausgerechnet der verhaltensauffällige Andrew ist, der seine Kräfte am schnellsten weiterentwickelt.

Stunts & Pranks

In Chronicle verbinden die Filmemacher archetypische Motive mit Zeitgeistigem, das Superheldengenre bedient sich naturalistischer Action, klassische Elemente aus dem Horrorfilm werden trendig aufbereitet. Ähnlich wie das Mädchen Carrie in Brian De Palmas gleichnamigem Horrorfilm aus dem Jahr 1976 nimmt ein gequälter Teenager Rache. Aber während Carrie wie (von Satan) ferngesteuert zu reagieren scheint, wird die furiose Katharsis von Andrew psychologisiert: Was passiert, wenn ein unterdrückter Jugendlicher, der keine positiven Vorbilder im Umgang mit Macht hat, zu viel davon bekommt?

Wenn schon die Psychologisierung des Superhelden im Trend liegt, so gilt das ganz bestimmt für den Stil, mit der die Geschichte erzählt wird. Die naturalistische Jackass-Action trifft die Erwartungen eines Publikums, das authentischen YouTube-Content gewohnt und artifizieller Visual-Effects-Bombardements konventioneller Superheldenfilme überdrüssig ist. Den Machern von Chronicle sind Effekte gelungen – z.B. beim Fliegen –, die man so im Superhelden-Kino noch nicht oft gesehen hat. Der Web- und TV-erprobte Actionstil wirft dann auch die Frage auf, wie groß der Einfluss des kleinen Bildschirms (YouTube-Video, TV-Bildschirm) auf den großen Kinofilm ist. Doch auch abgesehen von solchen formalen Fragestellungen: Nach den notorischen Wiederauferstehungen von Superman und Spider-Man und den Leinwand-Inkarnationen unzähliger anderer DC- und Marvel-Comic-Helden ist es erfreulich, dass mit Chronicle wieder einmal eine originäre Story erzählt wird.