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The Grey – Unter Wölfen

The Grey

Prometheus und Isegrim

| Alexandra Seitz |

„The Grey“ von Joe Carnahan: ein Film über Testosteron und Territorium sowie Schrecken und Schönheit der Schöpfung.

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Sie stürzen ab. Und dann sind sie allein in der Wildnis und müssen sich bewähren. Mehr passiert nicht.The Grey von Joe Carnahan ist vorhersehbar, leicht zu durchschauen, geradlinig. Ein Film, so schlicht wie der Keulenschlag eines Höhlenmenschen. Geradeaus und effektiv. Zwei und zwei ergibt vier. Fertigschluss. Ganz einfach.

Vielleicht schaut man ihn sich deswegen so gerne an, diesen Film, der nicht mehr sein will, als er ist. Der also auch weder Brimborium noch Getöse veranstaltet, keine Ablenkungsmanöver unternimmt, keine Blendgranaten zündet. Der einen nicht volllabert, nicht einnebelt, nicht nervös macht und auch nicht in einen Stupor hineinödet.

Sie stürzen ab. Und dann müssen sie sich in der Wildnis bewähren. Mehr ist nicht. Doch halt! Da ist Liam Neeson. Und der ist auf jeden Fall ein Grund dafür, dass man sich The Grey gerne anschaut. Obwohl der hünenhafte Ire mit der deutlich gebrochenen Nase nun wahrlich keine Schönheit ist. Gerade weil er keine Schönheit ist, denn zum Ausgleich ist er ganz zweifellos und unmissverständlich ein Alphatier – und ein solches ist in The Grey bitter von Nöten.

Neeson spielt Ottway, der in Alaska bei einem Ölunternehmen angestellt und dafür verantwortlich ist, die Arbeiter an ihren abgelegenen Baustellen im Freien vor den Angriffen wilder Tiere zu schützen. Er liegt also im Schnee auf der Lauer und knallt ab, was immer sich in predatorischer Absicht nähert. Er ist ein Jäger, schweigsam und verschlossen, hellwach und witternd. Ein Einzelgänger, der an den Rändern streift und die Grenze sichert.

Ottway hat, das wird in ein paar behutsam eingesetzten Rückblenden gezeigt, seine Frau verloren. Dieser Verlust ist der Schmerz, der ihn zu Beginn beinahe in den Selbstmord treibt. Im März 2009 ist Neesons Frau (Natasha Richardson) einer Kopfverletzung erlegen, die sie sich bei einem Skiunfall zugezogen hatte. Daran sollte denken, wer versucht ist, das Erscheinen einer leise lächelnd erinnerten Frau, die mitten in einem Männerfilm „don’t be afraid“ flüstert, sentimental zu finden.

Eines Tages, unterwegs in Richtung Heimat, gerät das Flugzeug mit Ottway und einem Trupp Männern an Bord in einen schweren Sturm und stürzt mitten im tief verschneiten, bewaldeten Niemandsland ab. Groß sind Wehklagen und Entsetzen, doch Ottway hat sich schnell wieder im Griff und übernimmt instinktiv die Führung der planlos hysterischen Überlebenden: Flannery (Joe Anderson), Burke (Nonso Anozie), Hernandez (James Badge Dale), Talget (Dermot Mulroney), Diaz (Frank Grillo) und Henrick (Dallas Roberts) heißen die Männer, die in der Folge nach dem Prinzip mit der politisch unkorrekten Bezeichnung dezimiert werden – einer nach dem anderen. Sie fallen – direkt oder indirekt – dem Rudel Wölfe zum Opfer, das sich alsbald schon an der Absturzstelle einfindet, angelockt von Blutgeruch und Frischfleisch. Die Flucht beginnt und die Jagd ist eröffnet.

 

„Once more into the fray. Into the last good fight I’ll ever know. Live and die on this day. Live and die on this day.“

Die Wölfe – Ottway nennt sie „the grey“, aber grau ist auch die Landschaft – sind nicht mehr als eine narrative Funktion. Ihre bedrohliche Präsenz dient im weiteren Verlauf dazu, aus einer Horde nur an sich selbst interessierter Männer eine Gemeinschaft zu schweißen, die in der Lage ist, sich in denkbar ungünstigster und extrem lebensfeindlicher Lage zu behaupten.  Sie dient zudem dazu, entlang der unschlagbaren Weisheit des römischen Komödiendichters Plautus, „homo homini lupus“ (der Mensch ist des Menschen Wolf), zivilisiertes Verhalten einer Bewährungsprobe zu unterziehen. Am raschen Zusammenbruch von Sitte und Anstand, Moral und Ordnung wird deutlich, wie dünn und fragil die Grenze zwischen Mensch und Bestie ist und welche Anstrengung es erfordert, sie aufrecht zu erhalten.

Das ist, wie gesagt, alles nicht neu. Es wird aber von Carnahan – der hier ein Drehbuch verfilmt, das gemeinsam mit Ian Mackenzie Jeffers nach dessen Kurzgeschichte „Ghost Walker“ entstand – derart schwungvoll und reduktionistisch konzentriert ins Bild gesetzt, dass der vermeintlich alte Hut mit einem Mal wie der letzte Schrei aussieht. Zumal es gelingt, die um den Zivilisationsbegriff kreisende Auseinandersetzung der Männer mit den Wölfen, der Wildnis und sich selbst wiederum einzubetten in ein größeres Ganzes, das da heißt: Gott und die Welt und der unselige Auftrag des Schöpfers an sein Geschöpf, sich die Schöpfung untertan zu machen (vgl. Genesis 1,28). Ein Auftrag, der, indem er eine Trennung zwischen den Wesen einzieht, vielerlei Probleme verursacht, unter anderem das der Entfremdung des Menschen von seiner eigenen, wahren Natur.

Weil die Wölfe eher als Katalysatoren dienen denn als Handlungsträger, fällt es nicht weiter ins Gewicht, dass sie nur selten in Erscheinung treten (zumal sie nicht sonderlich überzeugend digital animiert sind). Es geht auch ein weitaus größerer Schrecken von ihnen aus, wenn man sie in der Finsternis der Nacht aufheulen hört, als einer der Männer ihnen mit dem Ausruf „You’re not the animals, we’re the animals!“ den abgetrennten Schädel eines der ihren zuwirft. Deutlich wird in diesem Moment nicht nur die vergleichbare Organisationsform von Männerhorde und Wolfsrudel. Deutlich wird auch die Vergleichbarkeit ihres Denkens und Empfindens.

Gegen Ende erhebt Ottway das Gesicht zum Himmel und die Stimme gegen Gott, in einer blasphemischen Rede, die möglicherweise nur von einem katholischen Iren mit derartiger Inbrunst gebrüllt werden kann. Sie jagt einem kalte Schauer über den Rücken und ist es daher wert, in voller Länge hier wiedergegeben zu werden:

„Do something. Do something. You phony prick fraudulent motherfucker. Do something! Come on! Prove yourself! Fuck faith! Earn it! Show me something real! I need it now. Not later. Now! Show me and I’ll believe in you until the day I die. I swear. I’m calling on you. I’m calling on you!“ Und dann, nach einer Pause, in der Gott auf sich warten lässt: „Fuck it. I’ll do it myself.“ Ein weiteres Mal stürzen sich nun also der Alphamann und der Leitwolf ins Schlachtgetümmel. In den letzten guten Kampf … auf Leben und Tod.

Gedreht wurde The Grey in British Columbia, Kanada. Das Wetter, das zu sehen ist, ist echt und kein Spezialeffekt. Es schneit, der Wind pfeift, der Himmel ist wolkenverhangen, die Bäume verschwinden schneebedeckt im Nebel, dann schneit es wieder. Im Übrigen ist es arschkalt. Die Farbpalette erstreckt sich von bleigrau über blaugrau bis dunkelgrau, dazu gesellen sich, je nach Tageszeit, Düsternis, Dunkelheit und Dämmerung.

Kameramann Masanobu Takayanagi stellt sich der Herausforderung dieser monochromen Landschaft mit der Virtuosität eines Sumi-e-Meisters. „Sumi-e“ heißt in Japan die Kunst der schwarzweißen Tuschmalerei. Sie soll die geistige Struktur, den Charakter, die Seele des aller Farbe entkleideten Dargestellten zum Ausdruck bringen. Takayanagis wunderbar ausdifferenzierte, schattierungsreiche Bilder verleihen The Grey eine lyrische Qualität – die diesen adrenalinschwangeren Männerfilm wie mit zarten Schleiern durchzieht. Sanftmütig wie der Tod.