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Edward Norton

Edward Norton

Two-Faced Bastard

| Alexandra Seitz |

Chamäleon, Trickster, Illusionist – ein Porträt des Schauspielers Edward Norton anlässlich von Wes Andersons „Moonrise Kingdom

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Es empfiehlt sich, auf der Hut zu sein. Er sieht nur auf den ersten Blick aus wie der Traum einer jeden Schwiegermutter. Er tut bloß so, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. In Wahrheit kann er sich in Nullkommanichts in den schlimmsten Albtraum verwandeln. Den einer jeden Fliege, den einer jeden Schwiegermutter. Und in Ihren. Man kann ihm nicht über den Weg trauen. Das ist klar, seitdem er das erste Mal auf einer Leinwand auftauchte. Als Chorknabe und Unschuldsengel Aaron, an der Seite von Richard Gere, in Primal Fear von Gregory Hoblit. Das war 1996, Edward Norton war 27 Jahre alt und bereits einige Jahre im Geschäft. Er spielte Off-Broadway Theater, war Edward Albee aufgefallen, der ihn für „Fragments“ an der Signature Theatre Company verpflichtete.

Frühe Berufung

Geboren wurde Edward Harrison Norton am 18. August 1969 in Boston, Massachusetts, aufgewachsen ist er in Columbia, Mary-land. Er ist das älteste von drei Kindern. Sein Vater arbeitete als Rechtsanwalt unter anderem für Jimmy Carter, seine 1997 verstorbene Mutter war Lehrerin. Der Schauspielerei war Norton, eigener Aussage nach, bereits im zarten Alter von etwa sechs Jahren verfallen, als ihn seine Babysitterin in ein kommunales Theater mitnahm, wo sie in dem Stück „If I Were a Princess“ auftrat. „I was completely shell-shocked“, beschreibt Norton die Erfahrung. Fortan besucht er Schauspielkurse, studiert nach der Schule jedoch zunächst Geschichte in Yale und arbeitet nach erfolgreichem Abschluss in der Firma seines Großvaters in Osaka. Dann zieht er nach New York. Dann fällt er Edward Albee auf. Dann spricht er für die Rolle in Primal Fear vor.

Wer sich an die seinerzeitige Seherfahrung erinnert, wird sich nicht nur an den Schrecken erinnern, den Norton auslöst, als er seine Figur ganz am Ende die Karten aufdecken lässt. Als klar wird, dass, was als Psychose, als Persönlichkeitsspaltung erschien, nichts als meisterliche Manipulation war. Eine Manipulation, der wir ebenso wie Richard Geres eitler Star-Anwalt Martin Vail zum Opfer gefallen sind. Dass nicht der gute Aaron vom bösen Roy überwältigt worden ist, der sodann den perversen Erzbischof abschlachtete. Dass vielmehr der böse Roy den guten Aaron zur Gänze erfunden und vorgetäuscht hat, um anschließend straffrei, weil aufgrund seiner vorgeblichen psychischen Störung unzurechnungsfähig, davon kommen zu können. Schlau. Gerissen. Heimtückisch. Über die Maßen berechnend und verletzend.

Wer sich daran erinnert, wie in diesen Schlussminuten der ganze Film umkippte und einen Salto rückwärts schlug, der wird sich auch daran erinnern, dass dies einer jener begeisternden Momente war, in denen man Zeuge der Geburt eines herausragenden Schauspielers wird. Ein Moment, der vorfreudige Erwartung auslöst auf das, was da noch kommen würde. Für seine Leistung in Primal Fear jedenfalls wurde Edward Norton gleich einmal für den Oscar nominiert und mit einem Golden Globe ausgezeichnet. Er hat auch in der Folge nicht enttäuscht, hat seine Rollen sorgsam ausgesucht und sein Talent nicht verschwendet. Verglichen mit den Filmografien anderer Schauspieler seiner Generation ist die seinige, mit knapp 25 von der IMDB gelisteten Spielfilmen, überschaubar.

Norton ist keiner, der es sich und seinen Kollaborateuren einfach macht. Er ist kein pflegeleichter Darsteller, der einen Job annimmt, auf dem Set auftaucht, seine Rolle spielt, wieder in seinem Trailer verschwindet und die Kohle einstreicht. Er mischt sich in die Drehbücher ein, redet dem Regisseur dazwischen, sagt deutlich, wenn ihm etwas nicht passt. Berüchtigt beispielsweise ist die Kontroverse um American History X von Tony Kaye (1998). Darin spielt Norton einen mächtigen Skinhead, der wegen Totschlags an zwei Schwarzen ins Gefängnis muss und dort dann seine Läuterung erfährt. Seinen jüngeren Bruder aber, der inzwischen in seine Fußstapfen getreten ist, kann er nach seiner Entlassung doch nicht retten. Über den Endschnitt gerieten sich Kaye und die produzierende New Line Cinema furchtbar in die Haare; schließlich stellte Norton den Film gemeinsam mit Cutter Jerry Greenberg fertig. Kaye war darüber so erbost, dass er sich öffentlich von American History X distanzierte und Norton einen „narzisstischen Dilettanten“ schimpfte. Der entgegnete darauf nur, man müsse nicht alles glauben, was Kaye sagt.

Für seinen Über-Skinhead, der ihm im übrigen seine zweite Oscar-Nominierung einbrachte, legte Norton einige Kilo an Muskelmasse zu – die er für seine folgende Rolle in David Finchers Fight Club (1999) allerdings wieder loswerden musste. Zwar schlägt sich sein namenloser Erzähler, aka „Jack“, wacker durch die illegalen Hinterhof-Prügeleien, die er gemeinsam mit seinem sinistren Kumpanen Tyler Durden anzettelt und zu einer revolutionären Bewegung männlicher Selbstermächtigung ausbaut. Über das ausgeprägtere Sixpack aber verfügt wieder mal Brad Pitt in der Rolle von „Jacks“ Alter Ego. „Jack“ und Tyler, das ist erneut so ein in der Hölle geschmiedetes Paar, das auf Erden nur wandelt, um der Menschheit den Spiegel vorzuhalten und ihr die amoralisch verzerrte Fratze zu zeigen.

Vielschichtige Charaktere

Es ist kein Zufall, dass Norton, dieser so ernsthafte, ja, intellektuelle Schauspieler immer wieder Figuren verkörpert, die zwei Gesichter haben oder eine verborgene Seite, die ein doppeltes Spiel spielen oder sich in ihrer vermeintlichen Charakterfestigkeit bis zum Zerbrechen erschüttert sehen. Oder dass er in Tim Blake Nelsons Leaves of Grass (2009) in einer Doppelrolle die beiden gegensätzlichen Zwillingsbrüder Bill und Brady Kincaid spielt (Literaturprofessor der eine, Graszüchter der andere).

Aaron und Roy, „Jack“ und Tyler, Bill und Brady, Bruce Banner und der inkredible grüne Hulk, Monty Brogan in Spike Lees 25th Hour (2002), Jack Teller in Frank Oz’ The Score (2001) und Gerald Creeson in John Currans Stone (2010; beide Male an der Seite von Robert De Niro, als dessen würdiger Nachfolger Edward Norton nicht zu Unrecht des öfteren genannt wird) – sie alle sind Gestaltungen der Komplexität eines Ich, Möglichkeiten von Identität. Sie verkörpern die Freiheit, sich zu entwickeln und sich zu entscheiden, sind Reflexionen über das, was einer ist, was einer werden könnte, warum er so geworden ist und ob sich daran auch wieder etwas ändern lässt. Nortons Sinn für das Nicht-Festgefügt-Sein einer Person, für die Fragilität, Erschütterlichkeit, Wandelbarkeit der menschlichen Psyche steht ein wenig quer zu den schlichten Lösungen, zu denen der US-amerikanische Mainstream-Film in Sachen Figurengestaltung tendiert. Mit einer Figur Edward Nortons wird einem – und auch darin ähnelt Norton Robert De Niro – nie langweilig, obwohl oder vielmehr gerade weil es sich bei diesen Figuren letztlich meist doch um ziemlich normale Leute handelt.

Nortons Figuren faszinieren und reizen, weil sie in ein spirituelles und/oder ideologisches Bezugssystem eingebunden sind. Moralische Kategorien sind ihnen keine inhaltsleeren Begriffe, Gut und Böse keine hohlen Phrasen, sondern Möglichkeiten der Verankerung ihrer Existenz. Wenn sie sich für das eine oder das andere entscheiden, dann tun sie das bewusst und reden sich nicht auf „die Umstände“ heraus – das provoziert.

Priester und Pfadfinder

In diesem Kontext sind nicht nur Figuren wie König Baldwin in Ridley Scotts Kingdom of Heaven (2005) und Walter Fane in John Currans The Painted Veil (2006) zu sehen, sondern vor allem auch Nortons, mit hochkarätiger Unterstützung vor und hinter der Kamera entstandenes Regiedebüt Keeping the Faith (2000). Norton spielt einen katholischen Priester, Brian, der gemeinsam mit Jake, inzwischen Rabbi, an New Yorks Upper West Side aufgewachsen ist. Die dritte im Kinderbunde hieß Anna, zog eines Tages fort – und kehrt nun als fesche Karrierefrau geschäftlich nach Manhattan zurück. Sofort bringt sie das Leben der beiden Männer massiv durcheinander. Es geht um Freundschaft und Liebe, Aufrichtigkeit, Treue und Glaubensfestigkeit, Versuchung und Gewissensnöte – es ist kein einfacher Stoff, und die gewählte Form ist auch nur vordergründig die der Komödie. Vielmehr gelingt es Nortons souveräner Inszenierung, auch die unvermeidlichen, tragödischen Elemente seiner Geschichte nie deplaziert wirken zu lassen. Keeping the Faith beweist auf sympathische Weise ein realistisches Gespür für die grotesk-verschlungenen Pfade, die einen der Herr mitunter entlang führt. Mit einer wohltuenden Unbefangenheit, die auch die soziale Funktion von Religion nicht aus den Augen lässt, hält Norton ein nie aufdringlich oder didaktisch wirkendes Plädoyer für Toleranz, Offenheit und Vielfalt; voller Verständnis sowohl für die menschlichen Schwächen als auch die heimlichen Starqualitäten seiner beiden Glaubensvermittler. Es ist der Film eines New Yorkers, eines Mannes, der zu Fuß geht – oder eben mit der U-Bahn fährt. Weil man auf diese Weise mitten drin bleibt in der Welt. Und sie besser sieht.

Aktuell ist Edward Norton in Wes Andersons Moonrise Kingdom, dem Eröffnungsfilm von Cannes 2012, zu sehen. Nach einem Drehbuch, das er gemeinsam mit Roman Coppola geschrieben hat, erzählt Anderson darin die Geschichte von Suzy und Sam, zwei Zwölfjährigen, die sich ineinander verlieben und im Sommer 1965 gemeinsam durchbrennen. Sie lösen damit eine Suchaktion aus, die die kleine Insel vor der Küste Neuenglands, auf der sich die Geschichte zuträgt, in beträchtlichen Aufruhr versetzt. Zu allem Überfluss braut sich auch noch ein gewaltiger Sturm zusammen. Norton spielt Scout Master Ward, den Leiter jener Pfadfindergruppe, aus deren Sommerlager Sam ausbüchst, und als solcher unmittelbar verantwortlich. Bruce Willis verkörpert den lokalen Sheriff, Bill Murray und Frances McDormand geben Suzys Eltern.