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Holy Motors

Leos Carax’ Comeback

| Gerhard Midding |
Gut ein Jahrzehnt lang war vom einstigen Regiewunderkind Leos Carax kaum etwas zu hören. Nun ist er wieder da, und das fulminant: Sein neuer Film „Holy Motors“ sorgte nicht nur beim Festival in Cannes für Begeisterung.

Es bleiben uns 20 Minuten, um 20 Jahre aufzuholen“, sagt Kylie Minogue zu Beginn der vorletzten Episode zu Denis Lavant. Was sie verband und dann trennte, bleibt ein Geheimnis, das Holy Motors nicht preisgeben wird. Um die Entschlüsselung dessen, was er ist, erzählen will und bedeutet, schert sich Leos Carax‘ neuer Film ohnehin nicht. Sein Furor zielt darauf, den Zuschauer mit surrealen Einfällen und visuellen Attraktionen zu konfrontieren, seine Logik (und Legitimation) ist allein das Erleben.

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Lavant verkörpert den mysteriösen Monsieur Oscar, von dem man nach einer Schonfrist des Rätselns erahnt, dass er einer neuen Gattung von Schauspielern angehört. In einer weißen Stretch-Limousine, die von Georges Franjus einstiger Muse Edith Scob gesteuert wird, bewegt er sich einen Tag lang durch Paris und bewältigt dabei ein Pensum von neun „Verabredungen“, die darin bestehen, dass er in unterschiedliche Rollen schlüpft, für die er sich jeweils selbst kostümiert und schminkt. Vorgestellt wird er als ein Unternehmer, der frühmorgens seine Villa verlässt, sodann verkörpert er eine greise Bettlerin auf dem Pont Alexandre III, später einen monströsen Faun, der Eva Mendes von einem Fototermin auf dem Père Lachaise in ein Versteck in der Kanalisation von Paris entführt. Einmal, womöglich in einer Pause seines anstrengenden Terminkalenders, führt er eine Horde von Akkordeonspielern an.

Carax kokettiert, auf der Leinwand ebenso wie in seinen seltenen Interviews, gern mit der eigenen Undurchschaubarkeit. Aber er legt Spuren aus. Die 20 Jahre, die sich in 20 Minuten nicht einholen lassen, darf man als Metapher auf seine eigene Karriere lesen: Von vergangener oder gar verlorener Zeit versteht dieser Regisseur eine Menge. Man hatte sich schon eine ganze Weile gefragt, was wohl aus ihm geworden sei; nicht zum ersten Mal. Seine Abwesenheit währte so lange, dass man beinahe schon vergaß, was man vermisst hatte: so wie langes Schweigen den Klang einer Stimme im Gedächtnis tilgt. Aber nun ist er wieder da, verblüfft mit einem Film, der wie ein Befreiungsschlag wirkt und die Hoffnung schürt, dass nicht wieder jeweils ein Jahrzehnt vergeht zwischen den Gelegenheiten, bei denen er sich zurückmeldet auf der Bühne des Weltkinos.

Ein Wiedergänger

Allerdings ist Skepsis geboten. Nur fünf Lang- und ebenso viele Kurzfilme hat Carax in etwas über 30 Jahren gedreht. Das legt den Verdacht nahe, er sei ein Bartleby, ein Verweigerungskünstler des Kinos. Sich derart rar zu machen, mag gleichermaßen stolze Bekräftigung wie die bittere Konsequenz seiner eigensinnigen Autorenschaft sein. Wahrscheinlich wird es Carax einfach so ergangen sein wie Whit Stillman, jenem anderen Kometen des Autorenfilms, der die letzten anderthalb Jahrzehnte mit zahllosen vielversprechenden Projekten zubrachte, die am Ende unweigerlich in Enttäuschungen mündeten.

Legenden und Geheimnisse ranken sich um Carax nicht erst seit der aufsehenerregenden Produktionsgeschichte von Les Amants du Pont-Neuf (1991), als er das Budget um ein Vielfaches und den Drehplan um zwei Jahre überschritt. Der autobiografische Gehalt seines Kinos ist ein geschickt dosiertes Gerücht. Der in seiner Jugend krankhaft schüchterne Regisseur fand die eigenen Gefühle erst durch die Arbeit legitimiert: Die Besetzung seiner weiblichen Hauptrollen (Mireille Perrier, Juliette Binoche) ging eingangs, ganz in der Tradition von Garrel, Godard und Truffaut, stets einher mit einer Liebesgeschichte.

Schon mit seinem ersten Langfilm Boy Meets Girl gelang es ihm 1984, hoch gespannte Erwartung zu schüren: Eine ungekannte, nicht nur im französischen Kino präzedenzlose poetische Wucht offenbarte sich in Boy Meets Girl. Mauvais sang (Die Nacht ist jung) bekräftige das Versprechen zwei Jahre später, das sich dann in Les Amants du Pont-Neuf endgültig erfüllen sollte.

Während etwa das Aufsehen, das Jean-Jacques Beineix erregte, der etwa zeitgleich mit ihm debütierte, bald erlöschen sollte (zunächst, weil er sich als melancholischer Kunstgewerbler erweisen und sich dann tatsächlich vom Kino verabschieden sollte) und die Filmkritik sich verstärkt für das realistisch-intime Kino der Nouvelle Nouvelle Vague (Arnaud Desplechin, Cédric Kahn, Noémie Lvovsky, Pascale Ferran und andere) interessierte, blieb Carax dennoch einer, der nach wie vor Neugier weckt; erst recht durch seine Abwesenheit. Sein Talent für das Ungekannte ist grundiert in einer weitläufigen, unersättlichen Cinéphilie, einer versponnen getilgten Schuld gegenüber Vorbildern wie Cocteau, Godard, Griffith und King Vidor. Die literarischen Assoziationen, die er in seine Filme eingestreut hat, sind nicht weniger heterogen: Balzac, Stendhal, Henry James, Thomas Wolfe und natürlich Herman Melville, dessen Roman „Pierre, or the Ambiguities“ 1999 die Vorlage seines ersten Comeback-Films Pola X lieferte. Sie verweisen auf ein Geflecht der Affinitäten, das einen noch weiterrätseln lässt, wenn sich der erste Eindruck von Verblüffung oder Evidenz gelegt hat.

Carax’ Kino ist sich seiner selbst bewusst, reflektiert den eigenen Status (Pola X wird heimgesucht von der Idee des künstlerischen Scheiterns) und arbeitet beharrlich an der eigenen Mythologie. Der Katalog der Themen und Motive, die er von Film zu Film aufgreift, ist lang: die Verschlingung von Traum und Realität, die Risiken des Blicks, die Suche nach einer Wahrhaftigkeit des Lebens, die Angst vor körperlicher Versehrtheit, schließlich die Sehnsucht nach der Schwerelosigkeit – eines seiner unrealisierten Projekte handelt von der im All aufkeimenden Liebe zweier Astronauten. Die Variation von Dialogpassagen, Gesten und Requisiten sowie das Wiederauftauchen von Rollennamen und Darstellern stellen weitere Querverbindungen her; geschickt legt er sie als Köder für aufmerksame Zuschauer und dankbare Kritiker aus.

Es ärgert ihn zwar, dass Holy Motors nach seiner Premiere in Cannes als eine Bilanz oder gar Summe seines Kinos angesehen wurde. Dennoch legt er darin ein Inventar an. (Auch des Kinos selbst – man denke nur daran, wie Lavant einmal als Darsteller im „Motion-Capture“-Vorspiel eines erotischen Animationsfilms agiert.) In der Eva-Mendes-Episode wiederum spielt Lavant, Carax’ alter Komplize seit den achtziger Jahren, einen Revenant des Monsieur Merde, der in Carax’ Segment des Omnibusfilms Tokyo (2008) unter einem Gullydeckel hervorkriecht und feststellt, der Himmel sei aber alt geworden. Durch das Kaufhaus Samaritaine, das in Les Amants du Pont-Neuf wie ein massives Sehnsuchtsbild erscheint, streichen Lavant und Minogue nun wie durch einen verlassenen Geistertempel.

Der unentrinnbare Ort

Überhaupt: Paris. Wenn die großartige Edith Scob die Limousine zielstrebig durch die Straßen lenkt und ihren Fahrgast einmal zum Blick aus den getönten Scheiben animiert: „Schauen sie nur, Monsieur Oscar, wie schön Paris heute Abend ist!“, dann wird deutlich, wie emphatisch uns Carax in seinen Filmen gelehrt hat, die Seine-Metropole mit anderen Augen zu sehen. Die Chronik dieser Faszination setzt mit dem selbstgemalten Stadtplan ein, den Denis Lavant in Boy Meets Girl hinter einem Bilderrahmen versteckt hat. Es mutet wie eine Zeremonie, ein verschwiegenes Ritual an, wenn er nachts bei seiner Heimkehr jedes Mal den Rahmen von der Wand nimmt. In den verschiedenen Arrondissements hat er die Wegmarken seines Lebens eingezeichnet. Auf der Karte hat er den Ort festgehalten, an dem er seinen ersten Kuss bekam, den ersten Ladendiebstahl beging und markiert, wie er auf dem Pont-Neuf seine Geliebte zum ersten Mal belog. Einmal trägt er seinen ersten Mordversuch am Ufer der Seine ein.

Diese geheime Kartografie der Gefühle und Affekte offenbart sich nur der Kamera; man darf sie als einen verstohlenen Liebesbeweis des Regisseurs an seinen Drehort lesen. Er kann sich von der Stadt nicht lösen, auch wenn in seinen Filmen immer wieder davon die Rede ist, Paris zu verlassen. Aber die Träume vom Anderswo und Anderssein sind stets aufschiebbar. Selbst in Pola X, der sich im ersten Teil in die mulmig-sonnenüberflutete Idylle der Normandie einversenkt, wird die Abkehr revidiert, wenn sich die Figuren im zweiten Teil in die tristen Ausläufer der Stadt begeben. Paris ist, bislang, das unausweichliche erzählerische Schicksal der Filme von Leos Carax. Seine Jugend hat er in Suresnes, 12 Kilometer vom Zentrum von Paris entfernt, zugebracht. Aber um von seinen Empfindungen zu erzählen, muss er sie deplatzieren: in ein imaginäres Paris (die Metro ist in seinen Filmen meist menschenleer), das seinen Figuren als Spielplatz dient.

Somnambule Entrückung

Seine Drehbücher folgen einer brüchigen Kontinuität der Ereignisse und Szenen; bis Holy Motors gehorchen sie vordringlich dem Impuls, ein Paar zusammenzuführen. Carax’ Liebesgeschichten loten indes einen Zwischenbereich aus, in dem die Träume nicht auf Erfüllung drängen, sondern sich beinahe noch selbst genügen. Seine Figuren schwanken, ob sie die Liebe als Überwindung ihrer Melancholie oder als deren Fortsetzung begreifen sollen. Ihr Erlebnishunger wirkt paradox beherrscht, gedämpft; er bleibt bis Les Amants du Pont-Neuf zumeist ungeteilt.

Denn die furiose Eloquenz der Körper, die Carax’ Kino vor allem dem hingebungsvollen, intensiven Studium des amerikanischen Stummfilms verdankt, ist eine Choreografie der Selbstbezogenheit. Das Körperspiel gerinnt immer wieder zum Zitat, zur Pose: die Akrobatik der Figuren, die Denis Lavant in seinen ersten drei Filmen verkörperte und er nun noch um eine Schraubendrehung der Exzentrik angezogen hat, gemahnt an den Zirkus und die Stummfilmburleske. Sie ist eher Mitteilung und Ausdruck als Strategie der Annäherung oder Eroberung. Pola X markiert einen Wendepunkt, die Keuschheit früherer Liebesszenen wird durch eine bedrängend nahe, verschlingende Körperlichkeit ersetzt. Die Sehnsucht ist hier geschwisterlich, ein Trachten, eine verlorene Einheit wiederzufinden.

Blicke und Gesten drängen auf Verschmelzung miteinander. Carax’ Inszenierung betont jedoch das Getrenntsein, das Disparate. Seine Figuren führte er immer schon gern als ein Rätsel ein, in einer Rückenansicht, als Fragment oder Spiegelung. Die Tondramaturgie basiert auf einer klaffenden Diskrepanz der Bilder, Töne und Stimmen, die sich überlagern, aber nicht zueinander finden; Gespräche muten wie parallel geführte Monologe an. Die Montage bricht brüsk die Kontinuität auf. Ein Umschnitt verweist bei Carax auf das Anderssein des Gegenübers, dessen Perspektive sich nicht geschmeidig anfügen will. Darin bestand bisher die Herausforderung, der Einsatz seiner Filme: das Entrücktsein, die zwischenmenschliche Ferne zu überwinden. Obwohl Holy Motors erst einmal wirkt, als sei er auf Krawall gebürstet, besitzt er doch eine staunenswerte Heiterkeit. Carax’ Filme waren immer schon Reverien. Nun taucht er erstmals selbst auf der Leinwand auf, erwacht im Prolog in einem Hotelzimmer und findet sich sogleich in einem dunklen Kinosaal wieder. Womöglich sind die Erlebnisse von Monsieur Oscar nur ein Tag- und am Ende ein Nachttraum. Auf jeden Fall folgt er einer somnambulen Logik. Wie sonst ließe sich ein Film erklären, der mit dem Zwiegespräch schlaftrunkener Limousinen endet?