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Ang Lees Verfilmung von Life of Pi

Auf hoher See

| Andreas Ungerböck |

Ang Lee hat sich ein äußerst bemerkenswertes Buch zur Verfilmung ausgesucht und wie so oft einen äußerst bemerkenswerten Film daraus gemacht.

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Es gibt keinen anderen lebenden Filmregisseur, der so viele Auszeichnungen erhalten hat wie Ang Lee: vom Goldenen Bären in Berlin für The Wedding Banquet über die Oscars für Brokeback Mountain und Crouching Tiger, Hidden Dragon bis hin zum Goldenen Löwen in Venedig für Lust, Caution. Geboren 1954 in Taiwan und seit langem in den USA ansässig, ist er einer der wenigen Filmemacher, deren Namen sich auch dem „normalen“ Kinogänger eingeprägt haben. Selbst seine „kommerziellsten“ Unternehmungen wie das Martial-Arts-Drama Crouching Tiger, Hidden Dragon und die Comics-Verfilmung Hulk demonstrieren seine Fähigkeit, breitenwirksame Stoffe mit einem hohen Anspruch umzusetzen.

Besonders eindrucksvoll ist Lees Umgang mit literarischen Stoffen, denn fast alle seine Filme basieren auf solchen – und seine Bandbreite dabei ist enorm: Er verfilmte Romane von Jane Austen (Sense and Sensibility), Daniel Woodrell (Ride with the Devil) und Rick Moody (The Ice Storm), Biografisches (Taking Woodstock), und zwei seiner eindrucksvollsten Filme entstanden sogar nach Kurzgeschichten – die eine von Annie Prolux (Brokeback Mountain), die andere von der chinesischen Autorin Eileen Chang (Lust, Caution). Es mag wie ein Klischee klingen, aber seine Filme handeln immer von Menschen in Ausnahmesituationen, im emotionalen Aufruhr, an entscheidenden Wegkreuzungen ihres Lebens. Deshalb kann es nicht überraschen, dass Lee sich nun einen Roman vorgenommen hat, der auf den ersten Blick nicht unbedingt verfilmbar erscheint –  seine „Protagonisten“ nämlich sind ein Junge und ein ausgewachsener bengalischer Tiger auf einem Rettungsboot. „Life of Pi“, Yann Martels mit dem Booker Prize ausgezeichneter Bestseller-Roman aus dem Jahr 2001, ist eine außergewöhnliche Geschichte, die, und da hat wohl Ang Lee bei der Lektüre Feuer gefangen, an die Fundamente des menschlichen Daseins rührt.

Martels Roman fokussiert auf den 16-jährigen Pi (eigentlich Piscine Molitor, kurioserweise benannt nach einem Pariser Schwimmbad), dessen Familie im indischen Pondicherry, das eine – wenig bekannte – französische Kolonialvergangenheit hatte, einen Zoo betreibt. Als die Eltern mit Pi, seinem älteren Bruder Ravi und mit den Zoo-Tieren nach Kanada emigrieren, sinkt das Schiff auf der Überfahrt in einem verheerenden nächtlichen Unwetter. Pi ist der einzige menschliche Überlebende und findet Zuflucht in einem Rettungsboot, zusammen mit einem Zebra, einer Hyäne, einen Orang-Utan und einem Tiger, der den exquisiten Namen Richard Parker trägt. Bald sind nur noch Pi und der Tiger übrig. 227 Tage lang treiben der Junge und die Raubkatze auf dem schier endlosen Ozean. Pi hat alles verloren – aber nicht seinen Willen zu überleben. Unwetter und Stürme peitschen das Boot, die Sonne brennt auf Pi herunter, und er hat nichts anderes anzuziehen als eine zerlumpte Baumwoll-Tunika. Der Junge mit dem langen, welligen Haar und den dunklen, seelenvollen Augen kauert auf einem behelfsmäßigen Floß, das auch bald zerstört wird, später auf der einen Seite des Rettungsbootes. Am anderen Ende, oft unter einer Plane versteckt, lauert Richard Parker, dem die Reise genauso zu schaffen macht wie dem Jungen – mit dem kleinen Unterschied, dass der Tiger den Burschen jederzeit töten könnte. Ihre beiden Schicksale sind untrennbar miteinander verquickt. Dem Jungen bleibt also gar nichts anderes übrig, als seine Wachsamkeit und seine Instinkte zu schärfen, will er diese scheinbar umögliche Reise bewältigen. Er lernt ein paar wesentliche Überlebenstechniken, z.B. wie man praktisch ohne Hilfsmittel Fische fängt und den Einfluss der Sonne nützt, um Salzwasser in Trinkwasser zu verwandeln.

Aus diesem wunderbaren Roman hat Ang Lee einen höchst ungewöhnlichen, spannenden 3D-Abenteuerfilm gemacht, mit dem jungen indischen Newcomer Suraj Sharma in der Hauptrolle. Gedreht wurde on location in Indien und Taiwan, aber natürlich nicht wirklich auf dem Ozean. Das Set für Lees spektakulären Film befand sich in Taiwan, der Heimat des Filmemachers. Pi kämpft in seinem Rettungsboot gegen 20 Meter hohe Wellen und gegen den peitschenden Regen – in einem riesigen Wassertank, der speziell für den Film konstruiert wurde – in einem aufgelassenen Flughafen nahe der Stadt Taichung. Auf der Leinwand vermittelt das Geschehen – dank Ang Lees unfehlbarer Meisterschaft, der Fähigkeiten seiner erfahrenen Crew und des Talents seines jungen Hauptdarstellers – einen total authentischen Eindruck. Die Szenen mit dem Tiger wurden teilweise mit Hilfe der Split-Screen-Technik, zum Teil mit einer digitalen Raubkatze bewerkstelligt, aber die Bedrohung ist stets unmittelbar zu spüren, und es sträuben sich einem öfters die Nackenhaare, zum Beispiel in der Szene, als der Tiger das erste Mal unter der Plane hervorschießt und die lästige Hyäne tötet. Und Lee packt eine Vielzahl von unvergesslichen Szenen in den Film – wenn man im glasklaren Ozean die Fischschwärme von oben sieht, einen fast durchsichtig erscheinenden Wal, aber auch in Sequenzen aus Pis (Alb-)Träumen vom Untergang des Schiffes.

Das vielleicht größte Verdienst von Life of Pi ist aber, dass es zum ersten Mal – sieht man von James Camerons Avatar ab – wirklich sinnhaft und zwingend erscheint, einen Film in 3D zu sehen. Was Lee und seine Crew auf diesem Gebiet geleistet haben, ist wirklich atemberaubend, schlüssig und betörend schön. Dass der Regisseur und der Film als heiße Oscar-Kandidaten gehandelt werden, liegt auf der Hand. Life of Pi ist in seiner Vielschichtigkeit, seiner Tiefsinnigkeit und seinem grundlegenden Verständnis für die zentralen Fragen des Lebens nur schwer zu übertreffen.