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Jonas Mekas – Eine umfassende Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum

Teilen als Lebenswerk

| Pip Chodorov |

Anlässlich der Retrospektive im Filmmuseum: „Ich bin eine sehr schwache Person. Ich kann nicht nein sagen.“ Jonas Mekas erklärt, warum er die ganze Zeit so beschäftigt ist.

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Eines Tages waren Jonas und ich Mittagessen im Whitney Museum, wo wir neben einem jungen Maler saßen. Er fragte, was wir so tun. „Hm, na ja, wir machen Filme“, sagten wir, „aber wir kuratieren auch Filmschauen, schreiben über Filme und sind Herausgeber, wir vertreiben die Filme anderer Leute und …“ „Wirklich“, fragte er, „warum tun Sie so viel?“ Wir schauten uns an, und Jonas sagte: „Ja, warum tun wir eigentlich so viel?“

Jonas erzählt gern eine komische Geschichte über Sprache. Er wurde in einem kleinen Bauerndorf im Norden Litauens geboren und ist dort, Litauisch sprechend, aufgewachsen. Aber als er zur Schule ging, hat er begriffen, dass er sein ganzes Leben einen Dialekt gesprochen hatte, und dass er in der Schule die litauische Sprache neu erlernen musste. Bald danach kamen die Russen und sagten: „Litauisch ist keine gute Sprache, Russisch ist eine gute Sprache.“ So musste er Russisch lernen. Und dann, nach wenigen Jahren, kamen die Deutschen und sagten, dass „Russisch keine gute Sprache ist“. Zu diesem Zeitpunkt hatte Jonas Litauen bereits verlassen, und als er und sein Bruder Adolfas von den Nazis gezwungen wurden, in einer Fabrik in der Nähe von Hamburg zu arbeiten, entschieden sie sich dafür, das Beste daraus zu machen und Deutsch zu lernen. Aber ihnen war nicht bewusst, dass man im Norden Deutschlands Plattdeutsch spricht, einen Dialekt! Es waren auch einige Italiener mit ihnen in den Baracken, also entschieden sie sich, ein bisschen Italienisch aufzuschnappen – aber es stellte sich heraus, dass das Sizilianer waren, und auch diese sprachen Dialekt.

Als sie schließlich in New York angekommen waren, sagten sie sich: „Zum Teufel mit der Sprache. Wir wollen keine Sprachen mehr lernen! Wir werden Filme machen – weil Kino eine für alle zugängliche Sprache ist!“ Das stellten sie sich ganz naiv so vor. So besorgten sie sich ihre Kameras und trafen andere Filmemacher, und sie alle liefen mit ihren Kameras umher und machten ihre kleinen Filme. Und dann trafen sie schließlich einige Filmemacher aus Hollywood, die sagten: „Welche Filme machen Sie? Wir würden gern Ihre Filme sehen!“ Sie zeigten sie ihnen, und die Filmemacher aus Hollywood sagten: „Aber was ist das denn? Wir verstehen Ihre Filme nicht! Was tun Sie?“ Und Jonas sagt: „Wir haben begriffen, dass wir die falsche Sprache des Kinos gelernt haben! Wir hatten die Avantgarde gelernt!“

Diese Geschichte zeigt, wie es Jonas gelang, viele Sprachen zu lernen, genauso, wie er viele Tätigkeiten erlernen musste. Anfang der 1950er Jahre, als er und Adolfas herausfanden, dass es an einer ernsthaften Filmzeitschrift mangelt, lernten sie Herausgeber zu sein. Das Magazin „Film Culture“, gegründet 1954 und dann fast vierzig Jahre lang erschienen, war in Amerika die erste Filmzeitschrift ihrer Art und einzigartig. Man bedenke, dass zwei Brüder sie ins Leben gerufen hatten, die eingewandert und des Englischen kaum mächtig waren! Jonas wurde auch Filmkritiker für die „Village Voice“, eine kleine Grätzelzeitung, die später weite Verbreitung fand. Jonas widmete die meisten seiner Kolumnen den avantgardistischen Filmen, die er gesehen und geliebt hatte, denn keine anderen Zeitungen förderten diese Art der Filmkunst.

Und als Jonas sah, dass keine Kinos bereit waren, die Filme zu zeigen, über die er schrieb, mietete er einfach selbst welche und kuratierte Filmvorführungen. Über viele Jahre hinweg und in verschiedenen Räumlichkeiten (der Gallery East, dem Charles Theatre, dem Papp Theatre, dem Bleecker Street Kino, 80 Wooster Street) war die spätere Film-Makers’ Cinematheque der einzige Ort, wo unabhängige Filme projiziert wurden. Als Jonas und Adolfas 1961 aber erkannten, dass sich kein Vertrieb für ihre unabhängigen Filme interessierte, gründeten sie kurzerhand die Film-Makers’ Cooperative, und so lernten sie, wie ein Filmvertrieb arbeitet. Die Gruppe fing mit zwei Dutzend New Yorker Filmemachern an, aber bald hatte die Coop Mitglieder und Filme aus dem ganzen Land, und binnen zehn Jahren entstanden ähnliche Kooperativen in Kalifornien, Toronto, New York, Paris und Berlin. Jonas war also der Anfang einer Bewegung!

Dasselbe bei den Anthology Film Archives, die er 1970 gegründet hatte. Es hatte nie zuvor ein Museum allein für die Kunst des Films mit einer Sammlung aller wesentlichen Filme (Essential Cinema) gegeben, die sich auf unabhängige, avantgardistische Formen des Filmmachens konzentrierte. Es waren viele Helfer und Menschen nötig, die an die Idee glaubten, um das Anthology auf die Beine zu stellen, und es dauerte schließlich 18 Jahre, um ein eigenes Gebäude zu erwerben, zu renovieren und zu eröffnen, aber Jonas war derjenige mit der Vision und dem Durchhaltevermögen, um all das geschehen zu lassen. Kolumnist, Redakteur, Museumsdirektor, Verleiher, etcetera: Jede neue Tätigkeit wurde aus der Notwendigkeit heraus erlernt und ausgeübt, während sich die Kunst des unabhängigen Films entwickelte und entfaltete. Die ganze Zeit über fand Jonas’ Hauptbeschäftigung hinter den Kulissen statt, das Dokumentieren von all dem war schließlich sein eigenes Filmemachen.

Jonas schrieb seit der frühesten Kindheit Tagebuch und später in seinem Heimatland Litauen weithin anerkannte Gedichte. Als er 1949 seine erste 16mm-Bolex-Kamera erworben hatte, filmte er das alltägliche Leben, so oft er konnte, gerade so, als ob er ein Tagebuch führen würde. Zuerst, das kann man sagen, war es wohl eher ein dokumentarischer Stil, aber schnell entwickelte Jonas eine zunehmend poetische, persönlichere Handschrift, und seine Aufnahmen glichen schließlich immer mehr seiner schriftlichen Dichtung, flüchtige Eindrücke des Lebens und der Natur. So war der Tagebuch-Stil für das Filmemachen geboren.

Heute, mit 90, findet Jonas’ unerschöpfliche Kreativität in seinen Filmen, Videos und Installationen ihren offensichtlichsten Ausdruck. Er sieht sich selbst nicht als Künstler oder als Filmemacher. Er hält sich nur für einen Kerl, der gerne filmt, der gerne Momente der Heiterkeit und des Glücks feiert: ein Bauernbub, der die Schrecken des Krieges und Exils erlebt und mit der „Befreiung“ in einem neuen Land neue Freunde gefunden hat – und eine neue Familie von Filmemachern. Das Lebenswerk von Jonas kann in einem Begriff zusammengefasst werden: Teilen. Das ist die Basis seiner ganzen Hyperaktivität: das Teilen von Filmen mit anderen, mit jedem, der interessiert ist, das Schreiben über sie, das Zeigen und Vertreiben und Verbreiten der Filme, das Bereitstellen und Bewahren für die Zukunft. Jonas sagt gern, dass, wenn er einen Film sieht, den er liebt oder der ihn bewegt, dann kann er ihn nicht für sich behalten, er muss ihn mit anderen teilen.

Ich würde behaupten, dass dasselbe auch auf sein Filmemachen zutrifft. Wenn er den Impuls hat, seine Kamera anzustellen, einen Moment rechtzeitig einzufangen, dann geht es auch in diesem Moment darum, ihn mit anderen zu teilen. Das ist Jonas’ wohltätiges Geschenk: mit Wissbegierde, offenen Augen und Leidenschaft durchs Leben zu gehen und alles, was er sieht, mit anderen zu teilen. Auf diese Weise können seine Erfahrungen andere berühren, in anderen Ländern und zu anderen Zeiten.

Jonas setzt seine Arbeit fort, teilt weiterhin seine Kräfte mit anderen und seine Filme mit dem Publikum. Wie nun in Wien. Fröhliches Schauen!

Pip Chodorov
Geboren 1965 in New York. Studierte Erkenntnistheorie an der University of Rochester und Filmsemiotik in Paris. Langjährige Tätigkeit im Filmvertrieb, u.a. bei Orion Classics, UGC, Light Cone und bei Re:Voir Video (
www.re-voir.com) in Paris, das er 1994 gründete, ebenso wie The Film Gallery (www.re-voir.com/gallery), die erste Kunstgalerie, die sich ausschließlich dem Experimental – film widmet. Außerdem Mitbegründer von L’Abominable, einem kooperativen Do-It-Yourself-Film-Laboratorium in Paris, und Moderator des Internet-Forums „FrameWorks“, das ebenfalls dem Experimentalfilm gewidmet ist.

Der Text stammt aus: Jonas Mekas. Der Flaneur mit der Kamera. Red. Christoph Gnädig. Mit Originalbeiträgen von Pip Chodorov, Christoph Gnädig, Cornelius Hell, Christian Hiller, Peter Kubelka sowie Texten von Jonas Mekas. SYNEMA Publikationen Wien 2013, 36 Seiten, Farbfotos, Euro 7,-. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Pip Chodorov und Synema.

Hanns Eisler – Kompositionen für den Film
Von 18. April bis 6. Mai zeigt das Filmmuseum außerdem ein Programm, das sich den filmmusikalischen Arbeiten des österreichischen Komponisten Hanns Eisler (1898–1962) widmet. Sein bewegtes Leben führte ihn von Paris bis London, von den USA in die DDR. Der Schönberg-Schüler ist heute vor allem für seine politisch engagierte Kampfmusik für die Arbeitersängerbewegung und die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht bekannt, doch war Eisler auch ein vielbeschäftigter Komponist von Filmmusik. So kann man im Filmmuseum etwa „Hangmen Also Die!“ (1944) und „None But the Lonely Heart“ (1945) sehen, die Eisler Oscar-Nominierungen einbrachten, aber auch das filmmusikalische Frühwerk wie „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt“ (1932) steht auf dem Programm. Eisler ging es dabei nie um einlullende Soundteppiche, sondern um intelligent gesetzte Kontraste und Akzentuierungen des Filmgeschehens.