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Der Tag wird kommen / Le Grand Soir

| Alexandra Seitz |

Großartige Totalverarschung vermeintlicher zivilisatorischer Errungenschaften der westlichen Welt

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Sie heißen Not und Dead, so wie in „Punk’s not dead!“ oder „We are not dead!“. Sie sind der Schrecken des Industriegebiets, des Supermarkts, des Outlets, der Shopping Mall, der Tankstelle und des Kreisverkehrs im zubetonierten, kommerzialisierten Niemandsland am Rande irgendeiner Stadt irgendwo. Ihre bürgerlichen Namen lauten Benoît und Jean-Pierre Bonzini. Als Dead noch Jean-Pierre war und fleißiger Matratzenverkäufer in einem dieser lagerhallen-ähnlichen Geschäfte, erklärte er Benoît, der sich schon seit Ewigkeiten Not nennt und mit Stolz von sich behauptet, der älteste Punk mit Hund Europas zu sein, dass die Leute aus den Zentren an die Ränder kämen, weil es hier ruhig und sicher und sauber und – vor allem – normal sei. Not denkt nach und beschließt, nicht mehr länger in der Innenstadt zu schnorren, sondern im Revier seines spießbürgerlichen Bruders. Dessen fade Existenz findet jedoch alsbald ein abruptes Ende: Jean-Pierre verliert seinen Job und dreht durch. Not eilt herbei, dem Bruder zu helfen – das revolutionäre Subjekt Dead wird geboren. Und das Sicherheitspersonal an den Überwachungsmonitoren kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Das Publikum auch nicht. Not und Dead sind die Helden von Le Grand Soir, einer irrwitzig trockenen, hundsgemein zielsicher ins Schwarze treffenden Unsozialsatire des eingespielten Regie- und Drehbuchautorenduos Gustave Kervern und Benoît Delépine, die im vergangenen Jahr beim Festival in Cannes in der Sektion „Un certain regard“ mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. In ihrer fünften Kollaboration nehmen Kervern und Delépine eine ganze Reihe gesellschaftlicher Missstände aufs Korn – mangelnde Solidarität und Vereinzelung, Kontrolle des öffentlichen Raums und Paranoia, soziale Ungerechtigkeit, unsichere Arbeitsverhältnisse, Entfremdung, Konsumterror – und üben Kritik mit dem erhobenen Mittelfinger. Konsequent absurd und lustvoll anarchisch ist die gewählte Form; größtmöglicher Unfug wird mit respektgebietender Entschlossenheit angestellt, mit heiligem Ernst wird an der Demontage der schönen, neuen Welt des Scheins gearbeitet und nebenher werden mit breitem Grinsen die filmischen Konventionen des Narrativen in Schutt und Asche gelegt.
„Le Grand Soir“, das ist der Vorabend der Revolution, von der Not und Dead in Le Grand Soir träumen. Doch leider hat an dem Abend keiner Zeit.