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Ein Dossier – Disney lässt zwei Welten aufeinanderprallen.

Aschenputtel und die Laserkanone

| Andreas Ungerböck |

Grenzenlos durch das Disney-Pixar-Universum: Nicht mehr und nicht weniger verspricht des Mediengiganten neue Games-Plattform „Infinity“.

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Im aktuellen Promotion-Video zu „Infinity“ wird kein Geringerer als der legendäre Firmengründer Walt Disney (1901–1966) in historischen Aufnahmen bemüht, um einmal mehr die Vorzüge und Stärken des Disney-Imperiums darzulegen. Wie sehr sich dieses Imperium – allen wirtschaftlichen Schwankungen und Krisen zum Trotz – noch ausweiten würde, das hätte sich jedoch selbst ein Visionär wie Walt Disney in seinen kühnsten Träumen nicht auszumalen vermocht. Mit der Lizenzierung des Mickey-Mouse-Zauberlehrlings aus Fantasia an Atari in den frühen achtziger Jahren war ein erster Schritt in die Welt der Computerspiele getan. 1988 wurde die erste hausinterne Spieleabteilung (Walt Disney Computer Software) gegründet, und spätestens seit der Etablierung von Disney Interactive im Jahre 1994 war klar, dass der Medienriese auch auf diesem Feld nichts dem Zufall zu überlassen gedachte. Meilensteine auf dem Weg in eine strahlende Zukunft waren unter anderem die Übernahme des kreativen Spiele-Entwicklers Avalanche Software im Jahr 2005 und natürlich die der Pixar Animation Studios im Jahr 2006. Mit Pixar und seinen enorm erfolgreichen Animationsfilmen (Toy Story 3 spielte bis heute allein in den USA 415 Millionen Dollar ein) kam nicht nur neues Leben in die etwas eingeschlafene Disney-„Zeichentrick“produktion, sondern es eröffnete sich ein gewaltiger Fundus an liebenswerten Charakteren, die einer heutigen Generation von kleinen und großen Kindern vielfach näher steht als selbst die klassischen, zeitlosen Disney-Lieblinge.

Purismus

Figuren wie der Space Ranger Buzz Lightyear und der Cowboy Woody (aus Toy Story), Lightning McQueen und Hook (aus Cars), Sulley und Mike Glotzkowski (aus Monsters, Inc.), um nur einige wenige zu nennen, stehen an weltweiter Popularität mittlerweile kaum noch hinter Mickey Mouse oder Donald Duck zurück. Ein Kassen-Hit aus dem Realfilm-Bereich, dessen enorme Beliebtheit selbst für die Verantwortlichen überraschend kam, zeitigte eine weitere Figur, die längst zu den Disney-Favorites gezählt werden kann: Captain Jack Sparrow aus der Pirates of the Caribbean-Serie (ab 2003), von Johnny Depp unnachahmlich als wilde Mischung aus Keith Richards und Douglas Fairbanks gespielt und mit all der Frechheit, dem Mut und den liebenswerten Marotten ausgestattet, die ein solcher Action-Held braucht. Mit diesem Personal aus dem 21. Jahrhundert hat Disney ein unglaubliches Potenzial an Vermarktungsalternativen, die von der Buzz-Lightyear-Kakaotasse bis zum Lego-Jack-Sparrow reichen. Allein die Plastikfiguren von Buzz Lightyear und Woody hatten sich bis 2007 bereits 25 Millionen Mal verkauft.

Lange Zeit sah es so aus, als wäre man bei Disney geradezu
akribisch darauf bedacht, die „beiden Welten“ (also die klassischen und die neuen Helden) voneinander getrennt zu halten. Eine Art ungeschriebenes Gesetz schien da zu walten, das wohl auch einem gewissen Purismus geschuldet war. Immerhin gehört der klassische Disney-Figurenfundus beinahe zu den nationalen US-amerikanischen „Heiligtümern“, allen voran Mickey Mouse, und die wahren Disney-Fans sind dabei mindestens ebenso konservativ wie der „vorbildliche Bürger“ Mickey. Doch die Aufweichung selbst der hartnäckigsten Traditionen geschieht bekanntlich schleichend. Für Puristen ist klarerweise eine Fernsehserie wie Mickey Mouse Clubhouse (deutsch: Micky Maus Wunderhaus), die der Disney Channel 2006 launchte, ein Horror: Micky Maus erlebt darin keine Abenteuer mehr, sondern bringt Vorschulkindern das Zählen und Rechnen bei oder das Erkennen von Farben und Formen. (Nicht nur) der Blogger Sascha Vetterle reagierte auf wasteland.blogg.de verstört: „Ich lehne diesen neuen modernen Micky ab und wünsche mir den traditionellen Micky wieder, früher war eben doch manches besser.“ Noch „schlimmer“ geht es in Disney’s Goof Troop (deutsch: Goofy & Max, 1992–1994) zu, einer Serie, in der der gefürchtete Micky-Erzfeind Kater Karlo (englisch: Black Pete) zu einem Gebrauchtwagenhändler geworden ist, dessen Sohn Karlo Junior, KJ, sich mit Goofys Sohn Max, der nebenan wohnt, anfreundet. Wieder andere Disney-Fans konnten sich nur sehr schwer damit abfinden, dass in den „Lustigen Taschenbüchern“ ausgerechnet der seit 1934 als notorischer Pechvogel weltberühmte Donald Duck plötzlich ein Alter ego namens Phantomias hat und nächtens als Superheld in Entenhausen aufräumt.

Mash-up

Man kann also getrost davon ausgehen, dass erklärte Puristen nicht zur unmittelbaren Zielgruppe von „Infinity“ gehören, dem gewaltig daherkommenden, „bislang ehrgeizigsten“ (Pressetext) Videospiel von Disney Interactive. Wobei „Spiel“ eigentlich das falsche Wort ist, handelt es sich doch, wie die Hersteller betonen, um eine Plattform, die sich in den nächsten Jahren kontinuierlich weiterentwicklen und verbreitern soll. Ausgeheckt wurde das Projekt von Avalanche Software; rund zwei Jahre lang arbeiteten nicht weniger als 220 Kreative daran, wie John Vignocchi, Executive Producer von „Infinity“, bei der Präsentation in Hamburg sichtlich jetlagged, aber voller Stolz verkündete. Die Idee, das gewaltige Disney-Imperium für kindliche und andere Spieler zu öffnen, stammt aus dem 2010 ebenfalls von Avalanche entwickelten Toy Story 3-Game. Doch damals, so John Blackburn, CEO von Avalanche, war die Zeit noch nicht reif: „Es gab eine Menge Dinge, die man uns nicht tun ließ. An der Figur des Buzz Lightyear herumzuschrauben, das war unmöglich. Doch selbst die Pixar-Animateure mussten zugeben, dass auch ihre Kinder vieles von dem tun wollten, was man uns letztlich verbat.“

Bei „Infinity“ ist nun alles anders: Zum einen gibt es zwar drei „herkömmliche“ Playsets, die mit den entsprechenden Figuren ausgerüstet sind (Pirates of the Caribbean, Monster University und The Incredibles), aber der wahre Clou an dem Spiel, so Vignocchi, ist die so genannte Toybox, ein Spiele-Modus, der es den Nutzern erlaubt, sich ihr eigenes Universum zu schaffen. Hier soll nun endlich verwirklicht sein, wovon die großen Kindsköpfe vor drei Jahren geträumt haben: „Die Art und Weise, wie hier Disney- und Pixar-Charaktere und -Szenarien verschmelzen, spiegelt wider, wie Kinder im wirklichen Leben spielen“, begeistert sich Blackburn. „Disney Infinity wird die Phantasie der Spieler beflügeln und für endlosen Spielespaß und kreative Glanzleistungen sorgen. Es ist, als hätten wir auf dem Wohnzimmer-Teppich einen Sack voll Spielzeug ausgeleert, und die Kinder können nun damit machen, was ihnen so einfällt.“

Bevor es aber so weit ist, brauchen die Kinder jemanden, der den Spaß bezahlt. Das Starter-Set, erhältlich ab 22. August, wird rund 70 Euro kosten und enthält die drei genannten Playsets, das „Infinity Portal“, mit dem sich die Figuren ins Spiel „teleportieren“ lassen, drei Figuren, nämlich Captain Jack Sparrow, Mr. Incredible und Sulley, eine erste „Infinity-Bonus-Münze“ (weitere müssen zugekauft werden) und diverse Codes, um ergänzende Inhalte online und auf Mobile-Geräten freizuschalten. Ein zusätzliches Cars-Playset wird ebenfalls am 22. August erscheinen und rund 30 Euro kosten. Die Figuren werden auf der Infinity Base platziert und integrieren sich so ins Spiel – eine Idee, die freundlicherweise schon der Disney-Rivale Activision Blizzard bei seinem Mega-Seller „Skylanders“ hatte. Das hat für den Spieler den Vorteil, dass er die schönen Actionfiguren auch sammeln kann, für den Spiele-Betreiber klingelt die Kasse auch beim Nachkauf weiterer Figuren (insgesamt sind es 17) und weiterer Bonus-Münzen, mit deren Hilfe die Charaktere mit zusätzlichen Kräften, Individualisierungs-Optionen und neuen Gegenständen ausgestattet werden können.

Die drei Playsets der Grundausstattung folgen im Wesentlichen herkömmlicher Spiele-Dramaturgie und können auch nicht miteinander vermischt werden. Hier kann man Rätsel lösen, unliebsame Gegner in die Schranken weisen, die Gegend erkunden und – vor allem – Gegenstände sammeln, die man in der virtuellen Toybox aufbewahrt. Mit Hilfe der Toybox nun – siehe oben – kann jeder User seine eigene Disney-Pixar-Welt erschaffen, „begrenzt nur von den Grenzen der eigenen Phantasie“, wie John Blackburn es ausdrückt. Hier kann man nun wahrlich aus dem Vollen schöpfen und Charaktere, Fahrzeuge, Gebäude und Accessoires individuell vermischen. Das ist der Punkt, an dem Puristen wohl endgültig die Haare zu Berge stehen: Mit Buzz Lightyears Laser-Gun auf Cinderellas Kutsche aus dem Jahr 1950 zu feuern, das bringt vermutlich nicht jeder fertig. Aber vielleicht können sie sich damit trösten, dass es endlich möglich sein wird, das zu tun, wovon wohl jeder Disney-Fan schon einmal geträumt hat: in Onkel Dagoberts Geldspeicher ein Bad zu nehmen, ganz wie der legendäre Geizkragen selbst.