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Identities – Queergedacht – Xavier Dolan im Gespräch über „Laurence Anyways“

Liebe Lieber ungewöhnlich

| Pamela Jahn |

Mit „Laurence Anyways“, der bei identities Österreich-Premiere feiert, hat der 23-jährige Xavier Dolan seinen dritten bemerkenswerten Film gedreht. Ein Gespräch über die Schauspielerei, über das Problem mit den Neunzigern und über verquere Liebesbeziehungen.

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Spätestens wenn er sich die Büroklammern wie künstliche Nägel auf die Fingerspitzen schiebt, weiß man, dass etwas im Argen liegt bei dem aufstrebenden Romanautor, der Literaturgeschichte unterrichtet und mit der ungestümen, rothaarigen Fred (Suzanne Clément) in einer glücklichen, weil offenen Beziehung zu leben scheint. Und dann dauert es auch nicht mehr lang, bis Laurence (Melvil Poupaud) nicht mehr anders kann, als mit dem Geheimnis herauszurücken, das ihm auf der Seele brennt: sein unbedingtes Verlangen, eine Frau zu sein. Mit dieser Offenbarung beginnt Xavier Dolans episch angelegter dritter Spielfilm Laurence Anyways über die unmögliche Liebe zweier Idealisten in ihren Erwachsenenjahren, die alles daran setzen, so ehrlich, leidenschaftlich und erwachsen wie möglich mit sich und ihren Gefühlen umzugehen, jedoch letztlich an einer Welt scheitern, die mit Anderssein immer noch ihre Schwierigkeiten hat.

Dolan dagegen beweist mit Laurence Anyways einmal mehr sein Gespür für komplizierte bis unmögliche Beziehungen verschiedenster Art: Während sich in seinem Erstlingswerk I Killed My Mother ein rebellischer, schwuler Teenager (gespielt von Dolan selbst) mit seiner allein erziehenden Mutter rumschlägt, verkörpert der kanadische Regisseur in Heartbeats den schüchternen Hipster Francis, der sich in den gleichen Schönling verliebt wie seine beste Freundin. Beide Filme bestechen nicht nur durch ihren eigenwilligen Stil, einem emotionalen und ästhetischen Feuerwerk aus popkultureller Poesie, Energie und Zärtlichkeit, sondern vor allem auch durch die unmittelbare Körperlichkeit, mit der Dolan seinen Figuren und Geschichten begegnet. Auch Laurence Anyways macht da keine Ausnahme.

Nach I Killed My Mother und Heartbeats ist das Ihr erster Film, in dem Sie nicht selbst mitspielen. Was hat Sie dazu bewogen, diesmal hinter der Kamera zu bleiben?
Es gab einfach keine Rolle für mich.

Als Drehbuchautor hatten Sie doch freie Hand. Da hätten Sie sich doch eine Rolle hineinschreiben können?
Wahrscheinlich schon. Und wahrscheinlich hätte ich Laurence auch selbst spielen können, wenn man bedenkt, wie intensiv ich während der Dreharbeiten mit den Schauspielern geprobt habe. Ich habe bei diesem Film unheimlich viel hinter der Kamera mitgespielt, nur sieht man mich eben nicht auf der Leinwand. Ein Grund dafür war auch, dass dann Suzanne Clément als Partnerin ausgeschiedenen wäre, weil der Altersunterschied zwischen uns einfach zu unglaubwürdig gewesen wäre. Alles in allem war es diesmal eine großartige Gelegenheit für mich, mir die Zeit zu nehmen, mich ganz auf die Regie zu konzentrieren. Aber in meinem nächsten Film spiele ich dann auch wieder selbst mit.

Das heißt, so ganz können Sie es also doch nicht lassen?
Oh Gott, nein, auf keinen Fall. Das Schauspielen ist und bleibt unheimlich wichtig für mich. Ich nutze jede Gelegenheit, um auch mit anderen Regisseuren über ihre Projekte und meine Leidenschaft zur Schauspielerei zu sprechen, und ich hoffe sehr, dass sich daraus bald einmal mehr ergibt und ich auch für jemand anderen vor der Kamera stehen kann.

Laurence Anyways erzählt von einem Mann, der als längst Erwachsener plötzlich den Entschluss fasst, als Frau weiterzuleben. Wie sind Sie zu der Geschichte gekommen?
Das war eine Frage von ziemlich genau 35 Sekunden. Wir befanden uns im Auto auf dem Rückweg von Montreal, wo wir gerade zwei Tage lang für I Killed My Mother gedreht hatten. Anne Dorval war auch dabei. Während der Fahrt haben wir viel herumgealbert und über dieses und jenes geplaudert. Auf einmal erzählte unsere Kostümassistentin von einem ihrer verflossenen Liebhaber, der ihr eines Nachts gestand, dass er von nun an als Frau weiterleben wolle. Natürlich ist das eine unheimlich intime Angelegenheit für ein Paar und von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich durch die Art, wie sie darüber sprach – ganz ehrlich und mit einem besonderen Ton in der Stimme –, dass ich dadurch den Schock ganz gut nachvollziehen konnte. Was es heißt, wenn der Partner, ein Freund oder ein Familienmitglied einem plötzlich so eine für völlig unmöglich gehaltene Offenbarung macht, die der Beziehung mit einem Schlag den Boden unter den Füßen wegzieht und jeden gemeinsam verbrachten Augenblick in Frage stellt. Und schon während sie die Geschichte erzählte, habe ich im Kopf angefangen zu schreiben. An dem Abend schrieb ich die ersten 30 Seiten, von denen letztlich im Film nicht viel übrig geblieben ist, bis auf den Anfang und das Ende, aber immerhin. Ich brauchte einen Titel und den Schluss, alles Weitere war zunächst nicht so wichtig. Letztendlich ging es dann zwar doch relativ schnell mit der Produktion, aber ich habe mir für das Drehbuch relativ viel Zeit gelassen. Ein Großteil ist zwischen den beiden anderen Filmen entstanden, da habe ich oft nachts geschrieben, an den verschiedensten Orten. Und wenn ich ehrlich bin, auch in den verschiedensten Gemütslagen.

Sie lassen in Ihren Filmen neben zahlreichen autobiografischen Elementen immer wieder gerne Anspielungen und Zitate aus der Popkultur und Filmgeschichte einfließen. Was konkret waren diesmal Ihre Referenzen und Inspiration?
Ich wollte unbedingt mit Close-ups arbeiten und zwar mit intensiven Blicken, die direkt in die Kamera gerichtet sind. Ein Film, der mich diesbezüglich besonders stark inspiriert hat, ist The Silence of the Lambs. Vor allem die Vorstellung von permanenter Beobachtung, Überwachung und Kontrolle, die da mit hineinspielt. Allerdings sehe ich das weniger als eine Inspiration speziell im Hinblick auf Laurence, als vielmehr etwas, was mich grundsätzlich interessiert und sich in allen meinen Filmen mal mehr, mal weniger deutlich findet. Aber ich erwähne es deshalb, weil es in diesem Film, wo es ja konkret darum geht, wie die Gesellschaft mit Minderheiten und marginalen Randgruppen umgeht, eine besondere Bedeutung gewinnt. Der Film beginnt deshalb auch mit einer Reihe von Close-ups von verschiedensten Menschen, die alle ihren Blick auf Laurence richten, während er die Straße entlangläuft.

Aber um auf ihre Frage zurückzukommen: Ich bin im Herzen ein unverbesserlicher Romantiker, und die größte Inspiration für Laurence war für mich eindeutig Titanic. Für mich ist und bleibt das eine der wundervollsten und ambitioniertesten Liebesgeschichten überhaupt. Und Titanic hat mich gelehrt, worum es im Kino geht. Man sagt ja immer, das Kino ist dazu da, alles größer zu machen: das Leben, die Liebe … und dazu, dem eigenen Leben für ein paar Stunden zu entfliehen. Titanic hat mir in dieser Hinsicht den Weg gewiesen, meine Geschichte über Laurence zu erzählen, auch wenn es sich dabei um ein anderes Universum handelt, und auch um ein ganz anderes Budget.

Was die Länge angeht, liegen Sie dafür nicht so weit auseinander.
Nein, das stimmt nicht. (Lacht.) Titanic ist 3 Stunden und 18 Minuten lang, da kommt Laurence nicht ganz ran.

Dafür ist Laurence gewissermaßen auch ein Historienfilm – Ihr erster Historienfilm.
Ja, nur dass Historienfilm bei mir heißt, dass der Film in den Neunzigern spielt.

Wie war das für Sie, in die Zeit zurückzugehen, in der Sie noch ein Kind waren?
Es war vor allem teuer. (Lacht.) Die Neunziger sind unheimlich schwer nachzustellen, weil es eine Dekade ist, die die Menschen am liebsten vergessen möchten. Die Mode, die Autos … im Nachhinein betrachtet war das alles ganz schön hässlich. Und „vintage“ sind die Sachen auch noch nicht, das heißt, es war zum Teil sehr schwer, genau das, was wir wollten, ausfindig zu machen. Wir haben also sehr viel recherchieren müssen.

In allen Ihren Filmen spielt Musik eine sehr wichtige Rolle. Im Zusammenhang mit Laurence Anyways bleibt einem aber vor allem „Fade to Grey“ von Visage ganz besonders im Gedächtnis.
Für mich persönlich war „Fade to Grey“ von vornherein mit Laurence verbunden, von dem Moment an, wo wir bei der Premiere von Heartbeats zu dem Song über den Roten Teppich liefen. Und der Song passte einfach großartig für die Ballszene, weil er eine unheimliche Energie transportiert, sexy ist und genial für einen Partyauftritt. Zumal die Szene im Grunde ja eine reine Phantasie ist, ein vue de l’esprit.

Eine weitere Gemeinsamkeit mit Titanic ist, dass es sich bei der Beziehung zwischen Laurence und Fred letztlich um eine unmögliche Liebe handelt.
Das stimmt. Aber auch das ist ein Grundmotiv, das in allen meinen Filmen zum Tragen kommt. Auch mein nächster Film wird davon handeln, genauer gesagt, geht es um die unmögliche Liebe eines Babyboomers zum Kino. Mehr kann ich im Moment zwar noch nicht verraten, aber lassen Sie ruhig schon einmal Ihre Phantasie spielen.