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The Grandmaster – Wong Kar-wai im Interview

Kampfkunst ist kein Sport, sondern eine Waffe

| Ralph Umard |

Wong Kar-wai im Gespräch über historische Recherchen, über die fiktionale Rolle von Zhang Ziyi und über seine Farbdramaturgie

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Nach Ashes of Time ist The Grandmaster nun Ihr zweiter Martial-Arts-Film. Stilistisch unterscheiden sich die beiden Filme aber dennoch sehr.
Richtig. Ashes of Time basiert auf einem chinesischen Ritterroman von Louis Cha, ist also reine Fiktion. Ip Man dagegen ist eine historische Persönlichkeit, ein großer Meister des Wing-Chun, und wir wollten seine Kampfkunst total authentisch präsentieren. Seine ganze Technik, all seine Bewegungen sollten genau seiner Lehre entsprechend gezeigt werden. Die größte Herausforderung bei diesem Film waren die Actionszenen. Wir drehten mit mehreren Kung-Fu-Trainern, die am Set mit dem Action-Team zusammengearbeit haben. Wir benutzten keine computergenerierten Bilder bei den Kampfszenen. Einige der Darsteller unterzogen sich einem 18-monatigen Training, um fähig zu sein, die Bewegungsabläufe schulmäßig auszuführen. Die Dreharbeiten mit all den Kung-Fu-Meistern am Set waren sehr problematisch. Es kam vor, dass sie sagten: „Nein. Unsere Technik ist so gut, da reicht nur ein Schlag. Und das geht so schnell, dass man es gar nicht sieht. Wenn zwei Schläge nötig sind, bedeutet das, dass man kein Meister ist.“ (Lacht.) Im Film können wir das natürlich nicht machen, und wir mussten sie von der Notwendigkeit einer Choreografie überzeugen. Für Yuen Woo-ping war das natürlich nervtötend, er choreografiert eine schöne Actionszene und muss sich dann all die Kommentare der Meister anhören: „Die Handstellung muss so sein, und der Kick war zu hoch. Diese Schlagkombination war falsch“, usw. Das war sehr, sehr schwierig. Aber uns wurde klar, dass dies ein neues Kapitel im Martial-Arts-Genre sein wird. Denn zuvor ging es in Kung-Fu-Filmen vorrangig um den Star, um eine Person, ihr Charisma, sei es Bruce Lee oder Jet Li. Aber in diesem Film geht es mehr um die Martial-Arts-Welt an sich, es geht nicht nur um eine Person.

Es geht auch um die Philosophie der Kampfkunst. Was ist Ihrer Ansicht nach deren Essenz?
Ich habe aufwändige Recherchen angestellt. Zunächst sammelte ich zwei Jahre lang schriftliche Informationen in meinem Notizbuch. Denn in den frühen Tagen unserer Republik fotografierten die Leute kaum. Da hat man so gut wie keine Fotos. Man muss nach Japan reisen, in die US-Chinatowns, um Fotos zu finden, anhand derer man jene Zeitperiode rekonstruieren kann. Aber nach den ersten zwei Jahren stellte ich fest, das man diese Kampfkünstler nur anhand schriftlicher Quellen und Fotos nicht begreifen kann. Man muss mit ihnen selber reden, muss sich in ihren Lebensraum begeben. Also machte ich mich auf den Weg nach Beijing und dann in die Provinzen. So traf ich im Norden einen großen Meister, er ist schon um die 70. Punkt fünf Uhr früh beginnt er mit dem Training. Sein jüngster Schüler ist 55; erst seit er im Ruhestand ist, kann er sich voll auf das Training konzentrieren. Bei unseren Unterhaltungen sprachen sie über die Lehre ihrer Kampfschule, erzählten die Geschichten ihrer früheren Meister. Einige Grundsätze habe ich wörtlich in den Film übernommen, die habe ich mir nicht ausgedacht. Sie sind simpel, aber aufrichtig. Grundsätzlich sollte man bescheiden auftreten, denn beim Martial Arts ist die Hand eine Waffe. Die Kampfkunst ist kein Sport, es ist eine Waffe, sie kann töten. Daher muss man dieses Können sehr vorsichtig handhaben und sorgfältig abwägen, an wen man es weitervermittelt. Doch wenn nötig, würde man ohne Rücksicht alles tun, um – und diesen Satz wollte ich unbedingt im Film haben – the last man standing zu sein.

Handelt es sich bei anderen Figuren auch um Personen, die wie Ip Man wirklich gelebt haben?
Die sind fiktional, aber ihre Charaktere basieren in gewisser Weise auf realen Vorbildern – prominente Persönlichkeiten aus der Martial-Arts-Historie.

Neben Ip Man stellen Sie eine junge Frau ins Zentrum des Filmgeschehens.
Wir hatten nicht vor, ein Biopic über Ip Man zu machen. Und da ich Frauen generell sehr schätze, spielen sie in meinen Filmen eine große Rolle. Zhang Ziyi stellt eine sehr starke Persönlichkeit dar, zu einer Zeit, wo Frauen in Wirklichkeit nichts zu sagen hatten und häufig unterdrückt wurden. Sie ist eine Art Symbolfigur für weibliche Emanzipation und Gleichberechtigung.
Dann gibt es da eine vom taiwanesischen Star Chang Chen verkörperte enigmatische Figur, Razor genannt. Sie erscheint bloß in vier Szenen, und man fragt sich: Wer ist das? Welche Rolle spielt er im Film?
Anhand der Figur wird im Vergleich mit Ip Man gezeigt, wie wenig Einfluss Menschen im Grunde auf ihr Schicksal haben – darauf, ob sie im Licht oder im Schatten leben. Beide hatten eine schwere Zeit während der japanischen Okkupation. Beide kommen etwa zur gleichen Zeit in den Fünfzigern nach Hongkong. Beide sind exzellente Kämpfer und gründen ihre eigene Kung-Fu-Schule in Hongkong – ein neuer Anfang. Aber am Ende wird Ip Man Großmeister und steht im Rampenlicht der Öffentlichkeit, während Razor, obwohl er auch das Zeug dazu hätte, ein Großmeister zu werden, als Friseur endet. Was ich zu sagen versuche, ist dies: Es sind nicht die persönlichen Fähigkeiten, es sind die Zeitumstände, die uns zu dem machen, was wir sind. Wer kein Glück hat, gelangt nicht ins Licht.

Ein Luxusbordell dient als Hauptquartier der Martial-Arts-Meister. Warum haben Sie diesen Ort gewählt?
Wie Sie wissen, waren Martial Arts in China lange verboten. Für die Mandschus war es eine militärische Kampfart und eine potenzielle Bedrohung ihrer Herrschaft. Die Martial-Arts-Kämpfer bildeten im Untergrund Widerstandgruppen mit dem Ziel, die Mandschus zu stürzen; später gingen aus diesen Gruppen die Triaden hervor. Martial Arts wurden heimlich trainiert, getarnt als Löwentanz oder bei chinesischen Operntruppen. Als Treffpunkte dienten auch Bordelle. Das waren keine Puffs, wie man sie heute kennt, wo es nur um Sex geht. Eher Klubs, wo den Männern beim Gespräch und Tee etwas Unterhaltung geboten wurde.  

Gab es Probleme mit den Zensurbehörden in China?
Nein. Kung-Fu-Schulen haben inzwischen großen Zulauf, Martial-Arts-Filme sind populär. Lange Zeit waren sie ja verboten gewesen unter Mao.

Sie sind bekannt dafür, ohne fertiges Skript zu drehen. Nun werden gleich drei Autoren in den Credits genannt: neben Ihnen noch Zou Jingzhi und Xu Haofeng.
Das bedeutet, dass wir mehr Meinungsvielfalt hatten, wir hatten auch mehrere Drehbuch-Varianten. Ich kenne mich aus, was den geschichtlichen Hintergrund in Südchina und Hongkong angeht. Aber über das Leben im Norden damals, über die Mandschurei, die nordchinesischen Meister, da ist Xu Haofeng der Experte. Was ihr Verhalten angeht, ihre Art zu sprechen, ihre Geisteshaltung, sind sie total anders. Und Zou Jingzhi ist jemand, der sehr gut Dialoge schreiben kann. Unsere Zusammenarbeit sah dann so aus, dass ich mir die Story ausdachte, und sie entwickelten die Charaktere im Rahmen dieser Story. Dabei arbeiteten wir als Team.

Ein Wort zu Ihrer Farbdramaturgie. Days of Being Wild war in Grün gehalten, bei In the Mood for Love dominierte Rot. Nach dem Farbrausch in 2046 herrschen in The Grandmaster, vor allem bei Außenaufnahmen, Schwarzweiß und Grautöne vor.
Stimmt, Days of Being Wild war grünstichig. Wir wollten eine nostalgische Stimmung, aber keine sepiafarbenen Bilder. Welche Farbe hat Nostalgie? Wir haben den Bildern einen Grünstich verliehen. Und rot ist die Farbe der Liebe. Generell kümmert sich aber William Chang, mein Produktionsdesigner, um die Farbgestaltung. Was nun The Grandmaster angeht, so bevorzugten Kung-Fu-Meister zu der Zeit tatsächlich schwarze, traditionelle chinesische Roben. Und außerdem ist das Fotomaterial, das man bei Recherchen über die Ära zu sehen bekommt, nun mal Schwarzweiß.