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Österreich – Die Welt global denken

Die Welt global denken

| Gunnar Landsgesell |

Von der Sorge um den Menschen sind drei demnächst startende Dokumentarfilme getragen:
Erwin Wagenhofer, Werner Boote und Anja Salomonowitz wenden sich unter dem Zeichen der Globalität dem Individuum zu.

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Was macht ein friedlich in seiner Blase schlummernder Embryo am Beginn eines Films über das Bildungssystem? Er rastet noch, bis ihn das Bildungssystem ergreift, dessen äußere Zwänge er als erwachsener Mensch schließlich zu seinen machen muss. Das Filmintro eines solchen Ultraschallfotos gibt aber auch über die Ansprüche des Regisseurs Bescheid. Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm Alphabet möchte offenbar nichts weniger, als die Bildungsfrage vom Nullpunkt neu zu denken. Das klingt nach einem offenen, fast grenzenlosen Unterfangen. Tatsächlich spannt Wagenhofer sein gedankliches Netz weit. Würde man eine Kausalkette daraus zitieren, hieße sie etwa so: Bildung dient nicht mehr der Entfaltung des Menschen, sondern dessen Disziplinierung im Sinn des Konkurrenz- und Leistungsgedankens. Hinter diesem steht eine zunehmend dem Selbstzweck verfallene Wirtschaft, die sich längst daran gemacht hat, nun auch unser Leben gnadenlos zu ökonomisieren. Was auf der Strecke bleibt, ist die Kreativität – wir werden zu Trägern dieses Systems, im Kern unglücklich, äußerlich aber entschädigt durch den Glauben, erfolgreich zu sein.
Inhaltlich ist Alphabet so zeitgemäß wie einleuchtend: Wer empfindet die Ökonomisierung unserer sozialen Beziehungen nicht als Besorgnis erregend? Zugleich ist damit aber auch eine ziemlich große Kiste geöffnet, in der viel zu finden ist. Vom Drill, dem Kinder in China unterworfen sind, über die Unternehmensberatung McKinsey, deren Mitarbeiter wie Parodien auf den Turbokapitalismus wirken, bis zu einem jungen Burschen, der als Leiharbeiter bei einer Security-Firma trotz Vollzeitjob nicht genug zum Leben verdient. Das zeigt bereits, wie weit die Problematisierung des Bildungssektors hier gefasst ist.
Alphabet begnügt sich nicht, den Bildungssektor im schulischen Bereich zu erkunden – der Beauftragte einer PISA-Studie erweist sich als erstaunlich zynisch – sondern stellt gleich die große Frage nach einer besseren Welt. In diesem systemischen Ansatz verästelt sich das Geschehen zunehmend, immer auf der Suche nach neuen Beispielen, nach neuen Beweisführungen. Alphabet ist ein Film, der gerne konstatiert, der sogar nach Alternativen, nach Lösungen sucht: in der Umwälzung der Bildung eben. Mit seiner Herangehensweise vertritt Wagenhofer einen nahezu utopistischen Ansatz, das macht dieses Projekt sympathisch. Schließlich finden sich auch einige Außenseiter, die sich der Einebnung der Kreativität schon heute widersetzen. Ein alter Maler in Frankreich dokumentiert anhand von Kinderzeichnungen, die in seinen freischöpferischen Kursen über viele Jahrzehnte entstanden, wie die Phantasie der Kinder sukzessive zerstört wurde. Aus bunten Blumen von damals, beklagt er, wurden monochrome Berge und hässliche abstrakte Flächen. Das erinnert an eine legendäre Nummer von Georg Danzer. Sein „Die dummen Erwachsenen“ schließt mit den Zeilen: „Und drum bitte ich die Eltern, verderbt‘s uns unsere Kinder ned.“
Eine Frage, die mit äußerster Dringlichkeit immer wieder diskutiert wird, ist jene, ob der Erde die Überbevölkerung droht. Der Dokumentarist Werner Boote (Plastic Planet) macht sich mit dem Verdacht auf seine Weltreise, dass es sich dabei um einen Mythos des reichen Westens handeln könnte. Spaßhalber rechnet er in Population Boom hoch, was passieren würde, würde die gesamte Erdbevölkerung nach Österreich verbracht. Die erstaunliche Erkenntnis: Keine Menschenpyramide wäre die Folge, sondern jeder Erdling hätte immer noch einige Quadratmeter zur Verfügung. Boote setzt gern auf Ironie zur Erkundung seiner Schauplätze, so wie er selbst sich gern als narrativer Vermittler ins Bild setzt. Das kann einen nerven, man kann sich davon aber auch unterhalten lassen. Boote mit Anzug und Stecktuch, einem Schirm mit WTO-Emblemen, so sieht der Advocatus Diaboli aus, der in ein afrikanisches Dorf genauso hineinschneit wie in eine Wellblechhütte in den Slums von Mumbai, um dort einfach mal nachzufragen. Das Konzept, Antworten im Lokalen zu suchen, hat seinen Charme. Boote fördert zutage, dass es weniger um Bewohnerzahlen geht, sondern um Fragen der Organisation, der Verfügbarkeit und des Einsatzes von Ressourcen, um Versorgungssicherheit herzustellen. Dass der Westen in dieser Hinsicht nicht unbedingt besser abschneidet, bestätigt Boote durch seine eigene Recherche. Visuell arbeitet Population Boom mit einer geradezu paradoxen Strategie. Anstatt die leeren Flächen der Erde zu filmen, reiht er völlig überladene Bilder aneinander. Holzhütten in Bangladesh, die sich in bedrohlichen Schichten übereinander drücken, Stadtautobahnen auf mehreren Ebenen in Tokyo, Serien von Hochhäusern. Alles eine Frage der Organisation also. Was Boote ausspart, ist, dass Städte oder Länder, deren Bevölkerung sich in den letzten hundert Jahren verfünffacht oder verzehnfacht haben, dennoch ein ernsthaftes Problem haben. Hätte Wien heute nicht mehr zwei Millionen Einwohner, wie im Jahr 1900, sondern 20 Millionen, wären das selbst für ein reiches Land kaum vorstellbare Herausforderungen. Das stößt freilich Werner Bootes Ansatz nicht um: die Welt global zu verstehen.
Mit einem Kuss beginnt Die 727 Tage ohne Karamo. Der untrügliche Liebesbeweis soll die bi-nationalen Ehepaare, die durch die (schlechte) Laune des Gesetzgebers schikaniert bzw. getrennt werden, von jedem Verdacht der „Scheinehe“ freisprechen. 727 Tage entwickelt sich unter der Regie von Anja Salomonowitz zu einer vielstimmigen Erzählung, in der man auch genötigt wird, sich neu zu orientieren und die einzelnen Teile zusammenzufügen. Ehepartner berichten von erlebten Degradierungen, aber auch davon, wie sie dagegenhalten. Eine Stimme, sie gehört Angela Magenheimer von der NGO „Ehe ohne Grenzen“, spricht erläuternd gesetzliche Regelungen ein. Mehrmals erkunden wir auch die Gesichter der betroffenen Paare, während diese mit ihren eigenen Statements konfrontiert werden. Die Verursacher zerrissener Beziehungen, Beamte und Politiker, wurden nicht aufgesucht, der Blick soll sich offensichtlich allein auf die Folgen von deren Tun richten. Das ist natürlich eine Entscheidung: die Komplexität des Themas über den inneren Zusammenhalt der Protagonisten zu vermitteln. Glück und Schmerz rücken hier zusammen und zeigen Handlungsbegrenzungen bis zur erlebten Ohnmacht auf. Dass der Staat in Fragen der Fremdenpolitik aber gänzlich ungreifbar bleibt, wäre der falsche Eindruck.
727 Tage setzt auch ästhetisch auf klare Entscheidungen. Der Film ist ausschließlich in gelben Tableaux gehalten. Dass er nicht nur Wände und Kochtöpfe, sondern fast alle seiner Akteure in gelbe Farben kleidet, soll laut Salomonowitz den Trotz und Mut der Beteiligten ausdrücken, könnte aber auch als Mangel an Respekt gegenüber dem bereits staatlich nivellierten Individuum zugunsten eines ästhetischen Konzepts missverstanden werden. Wie gnadenlos dieser Staat agiert und welchen Zynismus er im Einzelnen zwischen seinen Beamten und den betroffenen Menschen auslöst, wird spürbar, wenn eine Frau von einem Kriminalbeamten erzählt, der in ihrer Wohnung nach Unterhosen ihres Mannes Ausschau hält, oder wenn eine zweite Frau mit ihrem Kind zusehen musste, wie ihr Mann innerhalb weniger Stunden verhaftet und abgeschoben wurde. „Hätten’s halt keinen Nigerianer geheiratet“, sagt der Beamte.