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Dicke Mädchen

| Ines Ingerle |

Mit Sicherheit der beste billige Film des Jahres

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Dieser Film ist ein dicker Kinogenuss. Sven (Heiko Pinkowski) wohnt zusammen mit seiner an Altersdemenz erkrankten Mutter Edeltraut (Ruth Bickelhaupt) in einer kleinen Wohnung. Er kümmert sich liebevoll um die alte Dame, die ihn oft nicht einmal mehr wiedererkennt. Während Sven tagsüber in einer Bank arbeitet, gibt der Pfleger Daniel (Peter Trabner) sein Bestes, um Edeltraut den Alltag zu versüßen und sicherzustellen, dass sie nicht alleine das Haus verlässt. Eines Tages jedoch sperrt sie ihn beim gemeinsamen Fensterputzen auf dem Balkon aus und verschwindet. Die beiden Männer machen sich auf die Suche nach ihr und finden dabei nicht nur Edeltraut wieder, sondern auch etwas, wonach sie gar nicht gesucht haben: Zuneigung zueinander.
Dicke Mädchen zeigt, dass man auch mit minimalen Mitteln Kultverdächtiges produzieren kann. 2011 gründete Allrounder Axel Ranisch (als Schauspieler bekannt aus Wie man leben soll) zusammen mit Freunden die Berliner Produktionsfirma „Sehr gute Filme“ und machte sich, mit einem kolportierten Budget von 517,28 Euro ausgestattet, an deren Erstlingswerk. Ein Treatment legte Inhalt und Reihenfolge der Szenen fest, die Dialoge sollten improvisiert werden. Gedreht wurde auf Mini-DV innerhalb von zehn Tagen. Auf ein Filmteam wurde verzichtet, nicht nur aus budgetären Gründen, sondern auch, um den Schauspielern größtmöglichen Freiraum zu geben. Das Ergebnis jedenfalls kann sich trotz wackeliger Kamera, unscharfer Bilder und rauer Farben sehen lassen: ein schwungvoll inszeniertes Werk, ausgestattet mit viel Feingefühl und mit zärtlichem Humor.
Für die Rolle der Edeltraut besetzte Ranisch seine 1921 geborene Oma, die das erste Mal vor der Kamera steht, die männlichen Parts übernehmen zwei befreundete Darsteller (die auch für Idee und Buch mitverantwortlich zeichnen). Das Spiel der drei ist erfrischend natürlich und von einer Intuition geleitet, die jede Szene zu einem geradezu intimen Erlebnis werden lässt. Wenn beispielsweise Heiko Pinkowski seinen fülligen, nackten Leib zu den Klängen von Maurice Ravels’ „Bolero“ bewegt, sind wir zugleich peinlich berührt und köstlich amüsiert. Auf absolut putzig-unschuldige Weise wird die Annäherung der beiden Männer gezeigt: Ein Picknick am See geht in ein – frei erfundenes – Aborigines-Ritual über, in dem sie einander gegenseitig zum Ausziehen auffordern, mit Schlamm beschmieren und zu brüllenden Riesenbabys mutieren. Selten hat man in deutschen Filmen entscheidende Momente mit einer solchen Leichtigkeit umgesetzt gesehen.