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Der Letzte der Ungerechten

Die Wahrheit des Märchen-Erzählers

| Jörg Schiffauer |

Mit „Le Dernier des injustes“ gelingt Claude Lanzmann das grandiose Porträt eines Mannes, der inmitten eines unlösbaren moralischen Dilemmas seine Integrität zu wahren wusste.

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Zu Beginn von Le Dernier des injustes steht Claude Lanzmann am Bahnsteig von Bohusˇovice um einen einleitenden Kommentar zu sprechen. Bohusˇovice – heute ein kleines, beschauliches Provinzstädtchen in Tschechien – war in der Zeit der nationalsozialistischen Besetzung der nächstgelegene Bahnhof zum Ghetto Theresienstadt, dem in der NS-Propaganda eine besondere, perfide Stellung eingeräumt wurde, dem Ort, der für tausende
Juden die erste Station auf einem unvorstellbar schrecklichen Weg war. Während Claude Lanzmann also versucht, ein einführendes Statement zu sprechen, wird er immer wieder durch den Lärm vorbeifahrender Züge unterbrochen. Und bald schon stellt sich jene Assoziation her, die Lanzmann schon mit Shoah in unaufdringlicher Intensität zu generieren verstand, wenn er an Orte zurückkehrt, die heute unscheinbar erscheinen, an denen mit dem Holocaust der größte Sündenfall der Geschichte stattfand. Und bald verbindet man so die Züge mit jenen des Adolf Eichmann, der die Transporte von Millionen Juden mit pedantischer Unerbittlichkeit umsetzte.
Im Verlauf der jahrelangen Recherchen für Shoah, seinen epochalen Film über den Holocaust, der in vielerlei Hinsicht Maßstäbe setzte, traf Claude Lanzmann 1975 in Rom Benjamin Murmelstein, den letzten Vorsitzenden des so genannten Judenrates im Ghetto Theresienstadt. Das Gespräch mit Murmelstein, das sich über eine Woche erstreckte und schließlich elf Stunden Filmmaterial ergab, fand keinen Eingang in Shoah und blieb über viele Jahre im Archiv. Es hat – und das aus gutem Grund – Claude Lanzmann jedoch nie ganz losgelassen, und so entschloss er sich, es mit Le Dernier des injustes zu einem eigenen Film zu verarbeiten. Wie bei Shoah hält Lanzmann auch bei Le Dernier des injustes an seinem fundamentalen Gestaltungsprinzip, Archivmaterial auszusparen – Ausnahmen bilden nur einige Aufnahmen von Zeichnungen, die Insassen von Theresienstadt heimlich angefertigt hatten, um das Grauen im Ghetto zu dokumentieren –, fest. Den Nukleus bilden die Gespräche mit Benjamin Murmelstein und Sequenzen wie die eingangs erwähnte, in denen Lanzmann an Schauplätze des Holocaust zurückkehrt, um die Erinnerungen Murmelsteins mittels eines Kommentars in einen größeren Kontext einzubinden.

Dilemma

Mit Benjamin Murmelstein hat Claude Lanzmann eine ungemein faszinierende Persönlichkeit als Gesprächspartner gefunden, und schon nach wenigen Minuten des Interviews von 1975 wird deutlich, warum Lanzmann sich dafür entschied, sich ihm in dieser Ausführlichkeit zu widmen. Benjamin Murmelstein ist zunächst einmal ein beeindruckender Mann, dessen Lebensgeschichte auch die Umbrüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. 1905 in Lemberg geboren, studierte er ab 1923 an der Universität Wien Philosophie, absolvierte dazu die Ausbildung zum Rabbiner und fungierte in dieser Position ab 1931 im 20. Wiener Gemeindebezirk. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland musste Benjamin Murmelstein als führendes Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde die von den Nazis erzwungene Auswanderung – wobei Vertreibung die treffendere Bezeichnung wäre – der Wiener Juden mit organisieren. Dabei traf er auch zum ersten Mal auf den berüchtigten Adolf Eichmann.    
Murmelstein ist im Interview ein eloquenter Gesprächspartner, ein gebildeter, sehr belesener Mann, dessen Sprache den Klang eines großbürgerlichen Wienerisch mit einer Nuance Jiddisch in sich trägt – ein gepflegter, sehr sympathischer Sprachduktus, der unglücklicherweise im heutigen Wien kaum mehr anzutreffen ist. Seine Erinnerungen sind präzise und sehr analytisch, wobei er oft weit ausholt – wiederholt beginnt Murmelstein Sätze mit einem „Schauen Sie“ –, um der Komplexität der Dinge gerecht zu werden. Dabei ist Benjamin Murmelstein von beinahe schonungsloser Ehrlichkeit, was andere, vor allem aber auch seine eigene Rolle angeht. Die wurde nämlich zusehends prekär. Murmelstein hätte die Möglichkeit gehabt zu emigrieren, unterließ dies jedoch, weil er seine Aufgabe, möglichst vielen Juden zur Auswanderung zu verhelfen und damit dem nationalsozialistischen Terror zu entkommen, nicht vernachlässigen wollte. Und Murmelstein erwies sich als exzellenter Administrator, der Lanzmann gegenüber durchaus selbstkritisch einräumt, dass neben dem Impuls zu helfen, er auch eine Zufriedenheit verspürt habe, eine schwierige Aufgabe gut bewältigt zu haben. Bereits hier sah sich Murmelstein jenem Dilemma gegenüber, das später in Theresienstadt in noch größerem Ausmaß auf ihn zukommen sollte. Die Bemühung, Juden zu retten – bis Ende 1941 konnten auch dank Murmelsteins Arbeit mehr als 120.000 Wiener Juden ausreisen – machte es unumgänglich, mit den Nazis eng zusammenzuarbeiten. In Murmelsteins Fall war dies der erwähnte SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, damals verantwortlich für die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“. Anhand eigentlich banaler Details macht Benjamin Murmelstein deutlich, wie schnell man durch den Kontakt mit Leuten wie Eichmann in den Verdacht geraten konnte, ein Kollaborateur, wenn nicht gar ein Günstling der Nazis zu sein. Er sei, so berichtet Murmelstein, einer von nur zwei Juden gewesen, denen Eichmann angeboten habe, sich zu setzen. Das habe jedoch einen simplen, ganz praktischen Grund gehabt. Er habe, so Murmelstein, Eichmann alles über jüdische Auswanderung beibringen müssen. Wie jeder Jude habe er vor Eichmann in dessen Büro stehen müssen, dabei habe er naturgemäß auf den an seinem Schreibtisch sitzenden Eichmann herabgesehen, was diesem nicht recht war – also stand Adolf Eichmann auf. Weil Murmelsteins Vorträge aber lange dauerten, wurde Eichmann das Stehen zu unbequem, also forderte er seinen Adjutanten auf, auch Murmelstein einen Sessel zu bringen. Diese kleine Episode mag – auch durch Murmelsteins Erzählduktus, dem immer wieder auch eine Portion Sarkasmus innewohnt – zwar ein kleines Maß an Ironie beinhalten, doch Murmelstein lässt keinen Zweifel darüber, wie eindeutig das Verhältnis schlussendlich war, wenn er etwa bei der Beurteilung Eichmanns Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ widerspricht: „Eichmann war nicht banal, er war ein Dämon.“
Im Gegensatz zu Shoah konzentriert sich Lanzmann in Le
Dernier des injustes auf eine einzige Person, doch anhand der Geschichte Benjamin Murmelsteins enthüllen sich dabei die Genese und die mörderische Konsequenz des Holocaust. Im Mittelpunkt der Gespräche stehen vor allem seine Rolle bei den Auswanderungen in Wien, die Deportationen nach Nisko und die Zeit im Ghetto Theresienstadt.

Die Notwendigkeit, Fassaden aufrecht zu erhalten

Im Jänner 1943 wurde Benjamin Murmelstein nach Theresienstadt deportiert. Dort angekommen, musste er im so genannten Judenrat fungieren, jenem von der SS zwangsweise ernannten Gremium aus in ihren Gemeinden angesehenen Juden, die an der Verwaltung mitzuarbeiten hatten. Es war eine Aufgabe, die ein unlösbares moralisches Dilemma nach sich zog: Jede Kooperation mit den Nazis, in dem Bestreben, die Bedingungen der Menschen im Ghetto wenigstens etwas zu verbessern und damit – vielleicht – Leben zu retten, bedeutete gleichzeitig die Zusammenarbeit mit jenen Tätern, die die Vernichtung aller Juden umsetzen wollten. Selbst wenn den Mitgliedern der Judenräte das volle Ausmaß dieses Vernichtungswillens nicht von Anfang an klar war – die Täuschungsmaschinerie der Nazis war diesbezüglich sehr einfallsreich, was auch Murmelstein bekräftigt – so gab es nicht wenige, die jede Form der Kooperation als Kollaboration ansahen. Diese auch heute noch oft heftig kontroverse Position der Judenräte wird anhand der Person Benjamin Murmelstein eindrucksvoll verdeutlicht. Im September 1944 wurde Murmelstein als „Judenältester“ zum Vorsitzenden des Judenrates von Theresienstadt bestimmt, nachdem die SS seine Vorgänger Jacob Edelstein und Paul Eppstein ermordet hatte. Im Interview stellt sich Murmelstein seiner Verantwortung und dem damit verbundenen Dilemma. Er sei sich durchaus bewusst gewesen, dass Theresienstadt als „Vorzeigeghetto“ der Propaganda der Nazis dienen sollte. Doch Murmelstein vertritt die Ansicht, dass solange Theresienstadt für Propagandazwecke benutzt und Delegationen des Roten Kreuzes vorgeführt wurde, dies eine Garantie für das Weiterbestehen des Ghettos – und damit für das Überleben der Juden – sei. Das sei auch der Grund gewesen, warum er an sich an den „Verschönerungsmaßnahmen“ im Zuge der Herstellung des Propagandafilms Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (der unter dem kolportierten Titel Der Führer schenkt den Juden eine Stadt bekannt wurde) beteiligt habe. Er habe, so Murmelstein „wie Scheherazade ihrem König der SS immer wieder Geschichten erzählt“, um so das Märchen vom „ordentlichen“ Ghetto aufrechtzuerhalten und die Liquidierung so lange wie möglich hinauszuzögern.
Claude Lanzmann erweist sich im Verlauf der langen Gesprächssequenzen als geduldiger Zuhörer, der Murmelstein ausreichend Zeit für seine umfassenden Erläuterungen lässt. Seine Nachfragen scheinen oft langsam um bestimmte Themen zu kreisen, um jedoch schlussendlich punktgenau zum Kern der Dinge vorzustoßen. Benjamin Murmelstein erweist sich dabei nicht nur als faszinierender Erzähler, sein präzises Erinnerungsvermögen – das sich an zahlreichen Details manifestiert, wie etwa dem Schicksal von Franz Kafkas Schwester – und sein Bestreben, die Dinge nicht nur genau, sondern auch ungeschönt – auch im Bezug auf die eigene Person – darzustellen, ergeben ein beeindruckendes Gesprächsdokument. Auf die ambivalente Rolle der Judenältesten angesprochen, zeigt Murmelstein durchaus Verständnis für die damit verbundenen Kontroversen, wenn auch mit dem für ihn nicht untypischen Sarkasmus: „Ein Judenältester nach dem Krieg ist wie ein Dinosaurier auf der Autobahn: Alle stoßen sich an ihm, die Juden wie die Deutschen.“ Murmelstein war zum Zeitpunkt des Interviews der letzte noch Lebende der Judenältesten, andere, wie etwa Adam Czerniaków, Vorsitzender des Rates im Warschauer Ghetto, begingen Selbstmord, Chaim Rumkowski – dessen Methoden im Ghetto von Lodz ebenfalls umstritten waren – wurde in Auschwitz ermordet. Dass es angesichts der Lage, in der er sich befand, schlichtweg unmöglich war, immer das richtige Maß zu finden, dessen war sich Benjamin Murmelstein wohl bewusst, er nannte sich – in Abwandlung des Titels eines Romans von André Schwarz-Bart – selbst sarkastisch „Der Letzte der Ungerechten“.
Denn auch seine Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Theresienstadt, wie ein drastisches Erhöhen der Arbeitszeit der Insassen, trugen ihm nachträglich heftige Kritik ein. Die mag jedoch auch darin begründet liegen, dass Murmelstein die Dinge schonungslos offen anspricht. Etwa wenn er erzählt, dass im Zuge anstehender Deportationen aus Theresienstadt in Richtung der Vernichtungslager im Osten es üblich war, dass Namen von den Listen – die der Judenrat erstellt hatte – ausgetauscht wurden. „Es wurden Namen aus Verwandtschaft, Freundschaft, Bestechung oder sexuellen Gefälligkeiten heraus getauscht“, so Benjamin Murmelstein. „Sie waren alle Märtyrer, aber keine Heiligen.“ Er selbst weigerte sich strikt, Namenslisten zu erstellen und unterband das Tauschen von Namen auf jenen Listen.  Auch dass er zum Erreichen seiner Ziele – wie das Verbessern der hygienischen Bedingungen – sehr bestimmt, manchmal auch autoritär und undiplomatisch vorging – was ihm unter den Mithäftlingen nicht nur Sympathien eintrug –, spart Benjamin Murmelstein nicht aus. Dass der israelische Historiker Gershom Scholem sogar die Todesstrafe wegen Kollaboration forderte, nimmt Benjamin Murmelstein gegen Ende des Films mit beinahe sardonischer Gelassenheit hin. Er hatte sich nach der Befreiung von Theresienstadt freiwillig den tschechoslowakischen Behörden gestellt. Nach monatelanger Internierung wurde er vom Vorwurf der Kollaboration freigesprochen. Er bot sich im Zuge des Prozesses gegen Adolf Eichmann dem Gericht in Jerusalem als Zeuge an, doch sein Angebot wurde unverständlicherweise nicht angenommen.
Claude Lanzmanns herausragende Stellung als Filmemacher und Dokumentarist ist dank Shoah ohnehin unwiderlegbar, mit Le Dernier des injustes ist ihm erneut ein grandioses Filmdokument gelungen, das die Notwendigkeit, Geschichte nicht zu verdrängen, eindrucksvoll veranschaulicht. Ungeachtet aller möglichen Kontroversen um Benjamin Murmelsteins Rolle macht Le Dernier des injustes jedoch die entscheidende Wahrheit deutlich: Nach der Befreiung durch die Rote Armee befanden sich noch mehr als 16.000 Juden in Theresienstadt – sie verdanken ihr Leben auch Benjamin Murmelstein und seinem Mut, sich seinem unlösbaren Dilemma nicht zu entziehen.