ray Filmmagazin » Drama » Vom Sterben und Erleben

Oktober November – Vom Sterben und Erleben

Vom Sterben und Erleben

| Roman Scheiber |

Nach dem faszinierend archaischen Drama „Revanche“ schlägt Götz Spielmann in „Oktober November“ metaphysische Töne an. Gedanken zu einem nachdenklichen Film.

Werbung

Die gewagteste Szene dieses Films spielt sich aus radikal subjektiver Perspektive ab. Ein alter Mann befindet sich in diesem mysteriösen Zustand zwischen Leben und Tod, er ist gerade in der Schank seines stillgelegten Gasthofes mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen. Nun beobachtet er von außen, wie seine Tochter und ein Arzt um sein Leben kämpfen. Am Ende der Szene schwenkt die Kamera einen Stock hinauf, wir sehen das leere Bett des Mannes, den Nachttisch. Das Licht am Ende des Tunnels, eine brennende Nachttischlampe? Noch kann der Mann nicht entschlafen, es leuchtet die Ahnung, dass er noch etwas zu tun hat. Später spricht der Arzt, der ihn gerettet hat, mit ihm über seine Nahtoderfahrung. Sinngemäß: „Das ist ein bekanntes Phänomen.“ – „Ja, das muss einem doch jemand vorher sagen!“

Ist die Erfahrung eine andere, wenn man über das, was man erfährt, vorher Wesentliches aus anderer Quelle weiß? Um solche und noch viel existenziellere Fragen dreht sich Oktober November. Vielleicht ist es ja besser, den Film anzuschauen und erst danach etwas darüber zu hören und zu lesen. Sein Schöpfer Götz Spielmann hat in einem schönen Interview mit Karin Schiefer von der AFC Interpretationshilfen dazu gegeben. Wer sich als Kritiker dazu äußert, kann vorher sagen, wie schwierig er es findet, diesem Film mit einer Beurteilung beizukommen. Oder dass man das Gefühl hat, hier ist ein gescheiter, gereifter Filmemacher am Werk, der seine persönlichen Lebenserfahrungen in die Arbeit ebenso einfließen lässt wie seine persönliche Kunstrezeption, der durchaus offen scheint für inhaltliche, formale und atmosphärische Einflüsse von außen. „Wir alle sind von immens vielen Dingen mitgeprägt, mitbestimmt und gemacht“, sagt Spielmann. „Niemand ist ein nur aus sich schöpfendes Insel-Individuum.“ Selbstverständlich gilt das auch für die Figuren in seinen Filmen.

In Oktober November kommen nach dem Herzinfarkt des Vaters, eines zunächst grantigen Patriarchen (Peter Simonischek auf der Höhe seines Könnens) zwei ungleiche Schwestern im Haus der Familie zusammen. Für die eine, Sonja, Anfang dreißig (überzeugend: Nora von Waldstätten), ist es eine Rückkehr nach Jahren, in denen sie in Berlin schnelle Karriere als Fernsehstar gemacht hat. Sonja scheint in der Arbeit aufzugehen, privat wirkt sie jedoch distanziert, zuweilen traurig, haltlos. Die ältere Schwester, Verena (Ursula Strauss spielt hier souverän eine nur auf den ersten Blick ihrer Figur aus Revanche verwandte Frau), hat das nicht näher benannte Alpendorf nie verlassen. Nach dem Unfalltod der Mutter vor zehn Jahren lebt sie mit Mann (Johannes Zeiler) und Kind (Andreas Ressl) in der nun viel zu großen, immer noch denselben dunklen Resopal-Charme verströmenden, ehemaligen Wirtshaus-Pension. Dass Verena dieses Leben nicht befriedigt, zeigt sich in einer Affäre mit dem ebenso feschen wie weisen und in sich ruhenden Dorfarzt (Sebastian Koch). Während draußen das allmähliche Verblassen der Herbstfarben den nahenden Winter ankündigt, geraten die Geister in Bewegung, lüftet sich ein großes Geheimnis, befreien die Figuren sich von altem Ballast. Als Katalysator von außen bringt eine Gruppe von Pilgern neues Leben in den toten Betrieb, wenn auch weniger durch ihren Glauben als durch ihre schiere Präsenz. Götz Spielmann: „Wenn ich das Thema von Oktober November definieren müsste, dann ist es die Frage von Identität. Das ist eine zentrale Frage in unserem Leben. Selbstentfremdung, Selbstverwirklichung spielen da hinein, auch die Frage nach dem Sinn, und warum ich hier auf dieser Welt bin.“

Sein zum Tode

Wie schon in dem vielfach ausgezeichneten Drama Revanche setzt Spielmann in Oktober November das Gewusel der urbanen Umgebung gegen den Gleichmut der Natur. Die Stadt steht dabei für die Äußerlichkeit, das Habenwollen von was immer: Geld, Besitz, Macht, Aufmerksamkeit, Ansehen. In Revanche war es das zuvorderst profitorientierte Treiben im Rotlichtmilieu, welches der Film aber nach dem ersten Drittel samt der dortigen Figuren abrupt hinter sich ließ. In Oktober November erscheint die Stadt im Wesentlichen auf den sinnlosen Glamour des TV-Geschäfts mit der Masse reduziert. Gutgelaunt, geschickt und doppelbödig inszeniert Spielmann die Herstellung der Fernseh-Dutzendware, man kommt allerdings schwer umhin, darin nicht zumindest einen Anflug von Ironie zu erkennen.

Die Natur dagegen, die Spielmann seit Revanche narrativ einsetzt, hat tiefere, teils auch widersprüchliche Bedeutungen. Einmal erscheint sie als Ort der Bewusstwerdung, der geistigen Öffnung, dann als Ort der Geworfenheit, dann wieder bietet sie den Rahmen für die Akzeptanz der unabänderlichen Dinge. Den Bergsee, an dem sie zufällig den Arzt trifft, bezeichnet Sonja ihm gegenüber als den Imaginationsort ihrer Kindheit. Gleich darauf muss sie ganz nebenbei erkennen, welches Klischeebild eines Fernseh-Landarztes sie aus der Stadt zurückgebracht hat an diesen Ort, an dem sie als Kind von Liebe und Bewunderung geträumt hat. Wenn in einem wiederkehrenden Traumbild ein Fisch am Ufer des Sees auf einem Felsen zappelt, steht das mit der zunehmenden Atemnot des Vaters, mit dessen nahendem Tod in Verbindung. Es lässt sich als Metapher für Sonjas Angst um den Vater lesen, aber auch als allgemeiner symbolischer Ausdruck, das natürliche Leben vom natürlichen Sterben her zu denken. Und der See? In Revanche war eine Waffe hineingeplatscht und hatte die unvermeidlichen Wellen verbreitet. Hier steht er noch stärker für das Verborgene der Seele.

Spielmanns Kino macht es sich nicht leicht. Dramaturgische Konventionen sind ihm einerlei, Intuition und Präzision sollen einander darin nicht ausschließen. Es zielt auf zeitlose Gültigkeit, nimmt seinen Ausgang in verschiedenen Milieus, untersucht zunächst die soziale Bedingtheit des Menschseins – im Sinn der Abhängigkeit von Lebensumständen. Vor allem aber öffnet es zunehmend narrative Fenster, hinter denen so etwas wie Freiheit oder Gelassenheit zu sehen ist, die Möglichkeit der Versöhnung, der individuellen Abkoppelung von gesellschaftlichen Systemzwängen oder, große Wörter, Sinnstiftung und Seelenheil. Oder, noch größeres Wort: Transzendenz. Es ist in seiner Ausrichtung ein fast schon spirituelles Filmemachen: die Suche nach abstrahierfähigen Wahrheiten in konkreten Erzählungen. Wenn so einer Suche, wie im Fall von Spielmann, ein gewisser Optimismus innewohnt, läuft diese Art von Kino mitunter Gefahr, ins Naive abzugleiten. Es braucht Mut und Können, auf diesem schmalen Grat zu arbeiten.

Man kann nicht sagen, dass Spielmanns Geschichten sich gänzlich dem Wechselspiel ihrer Figuren überantworten. Doch schon die Drehbücher indizieren ein sehr gutes Gespür für das wechselnde Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen den Charakteren, welches sich auch in den Inszenierungen eindrucksvoll niederschlägt. Kein Schattenwurf einer Figur ist Zufall, kaum ein Dialog, eine Position, eine Bewegung der Figuren im Raum, die nicht sorgfältig (mit Kameramann Martin Gschlacht und den Schauspielern) erarbeitet, organisiert, komponiert wirkt. Das Bemerkenswerte an den Figuren ist, dass sie einem zunächst als gewissermaßen ganz normale Gefangene ihrer Existenz erscheinen. Doch irgendwann, oft ausgelöst durch einen Verlust (den Verlust der Zuneigung in Antares, den Verlust der Geliebten und den Verlust der Unschuld in Revanche, den bevorstehenden Verlust des Vaters in Oktober November), geschieht etwas mit diesen Figuren: Sie beginnen aufeinander einzugehen oder einander mindestens zu konfrontieren. Sie erkennen an einem bestimmten Punkt der Erzählung ihre eigenen Projektionen auf einen anderen oder begreifen sich selbst als beeinflussbarer als sie dachten. Schuld, die sie auf sich geladen haben, hebt sich in ihr Bewusstsein. Zusammenhänge werden klar, die ein bis dahin wirkendes Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben als Illusion erkennbar machen. Die Figuren in Spielmanns Filmen, gerade wenn sie schablonenhaften Verhältnissen entspringen, werden vor unseren Augen zu lebendigen Wesen. Je fähiger zu lieben, desto vitaler. Je näher dem Tod, desto wacher.

Letzte Fragen

Auf ernsthafte Weise beschäftigt Götz Spielmann sich mit den größten Themen des Lebens und der Erzählkunst – Eros und Thanatos – und bemüht sich dabei um größtmögliche emotionale Genauigkeit. Oktober November bildet in dieser Hinsicht auch die bislang größte Herausforderung im Schaffen Spielmanns an sich selbst. Wurde in Antares noch Spannung aus einer ausgeklügelten episodischen Struktur generiert, kam in der archaischen Schuld-Gewichtung von Revanche der publikumsfreundliche Reiz des Wissensvorsprungs noch stärker zur Geltung, da verzichtet Oktober November weitgehend auf spannungsdramaturgische Elemente. „Sozusagen episches Kino in Form eines Kammerspiels“ nennt Spielmann selbst seinen Film, dessen Realismus sich dem Zusammenspiel von Bewusstem, Geahntem, Projiziertem, Verdrängtem, Unbewusstem verdankt. Die Szenen versuchen regelmäßig aus sich selbst heraus zu funktionieren, Motivation und Entwicklung der Figuren sind nur in Ansätzen aus der Handlung erklärbar. Dadurch öffnen sich Reflexions- und so etwas wie emotionale Wirkräume für den Zuschauer. Wer zum Beispiel einmal einen nahe stehenden Menschen beim Ableben begleitet hat, wird Anderes assoziieren zum ausführlich ins Bild gesetzten „Aus-der-Welt-gehen“ des Vaters vor den Augen seiner Töchter als ein Zuschauer ohne diese Erfahrung. Ja, muss einem das jemand vorher zeigen? Nein, aber so oder so: Es lässt einen nicht kalt.

Mit dem filmischen Erzählen einer im Grunde einfachen Familiengeschichte zu den letzten Fragen der Metaphysik vorzustoßen, ist ohne Zweifel ein äußerst ambitioniertes Unterfangen. Oktober November möchte mehr sein als die Umsetzung der Gedanken seines Urhebers, auf etwas Höheres, nicht intellektuell Fassbares verweisen. In gewisser Weise scheint der Film den Wunsch nach Vervollkommnung in den Hirnen und Herzen seiner Zuschauer in sich zu tragen. Ob man das Ergebnis nun erstaunlich oder gar erbaulich findet, es nicht so recht fassen oder nichts damit anfangen kann – es verdient aufgrund der künstlerischen Fallhöhe jedenfalls Respekt. Götz Spielmann scheint den Sinn seines Filmemachens, vielleicht im Sinn Hannah Arendts, im Versuch zu sehen, Verstand und Gefühl auf einen Nenner zu bringen. Er selbst drückt es so aus: „Es ist eine ganz eigene Ebene des Ausdrucks. Ich erreiche sie nur dann, wenn mein Erzählen mein Denken überschreitet, überwindet sogar. Ich habe dann das Gefühl, der Film, den ich mache, ist klüger als ich, komplexer als mein Denken.“

Aufschlussreiches zu „Revanche“ und zur Arbeitsweise von Götz Spielmann, Kameramann Martin Gschlacht, Cutterin Karina Ressler, Schauspielerin Ursula Strauss (die alle auch an „Oktober November“ beteiligt waren) sowie von den Schauspielern Johannes Krisch und Andreas Lust findet sich in dem Buch „Revanche. Ein Film von Götz Spielmann. Texte – Materialien – Interviews“, herausgegeben von Andreas Ungerböck, erschienen 2008 in diesem Verlag.