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Filmkritik

Seefeuer / Fuocoammare

| Oliver Stangl |
Kein Mensch ist eine Insel

Lampedusa: Es scheint unmöglich, sich die Mittelmeerinsel ohne Bilder von Flüchtlings-Auffanglagern vorzustellen. Es war daher eine kluge Entscheidung von Gianfranco Rosi, in seinem Dokumentarfilm nicht ausschließlich auf dieses medial dauerpräsente Thema zu fokussieren. Es sind gerade die Umwege, die Fuocoammare zu dem grandiosen und relevanten Werk machen, das es ist. Rosi, der ein Jahr lang auf der Insel verbrachte, knüpfte Kontakte zu den Einheimischen und porträtiert das dortige Leben mit seinem bewährten Stil: Tableauhafte Alltagsszenen, in denen meist schillernde Charaktere zugange sind, verbinden sich allmählich zu einem größeren Ganzen – wobei man dieses größere Ganze hier als Zustandsbeschreibung Europas verstehen könnte, das sich vor eine Herausforderung historischen Ausmaßes gestellt sieht (die Auszeichnung mit dem Goldenen Bären der Filmfestspiele von Berlin erfolgte also wohl mindestens im gleichen Maß aus künstlerischen wie aus politischen Erwägungen).

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Rosi war dabei, als Flüchtlingsboote aus Seenot gerettet wurden, und er scheut sich nicht, drastische Bilder in den fertigen Film zu integrieren: dehydrierte Männer, von denen ungewiss ist, ob sie überleben werden; Frauen, die vor Verzweiflung weinen; Leichen, die ein Bootsdeck säumen. Die Gründe für die Flucht – Hunger, der IS, das Regime in Syrien – erfährt man beispielsweise in einem improvisierten Lied, das ein Flüchtling vorträgt. Doch gibt es auch kleine Freuden, etwa, als ein Fußballspiel zwischen „Eritrea“ und „Syrien“ein kurzes Vergessen der Sorgen ermöglicht, oder als der Arzt Pietro Bartolo einer Schwangeren mittels Ultraschallbild zu vermitteln versucht, dass mit ihren Zwillingen alles in Ordnung sei. Dazwischen schneidet Rosi Szenen vom Inselleben, wobei einem Protagonisten besondere Bedeutung zukommt: dem zwölfjährigen Samuele. Man wird in Sequenzen, die manchmal geradezu poetische Qualität erreichen, Zeuge, wie er auf einem schwankenden Bootssteg auf- und abmarschiert, um seinen von Seekrankheit geplagten Magen abzuhärten oder unbeholfen versucht, ein Ruderboot zu steuern (schließlich ist sein Papa Kapitän).

Im Kontext mit der Flüchtlingssituation werden Samueles Taten immer wieder mit Bedeutung aufgeladen, deren Interpretation dem Zuseher überlassen ist (symbolisch erscheint auch, dass der Junge zur Behandlung eines trägen Auges eine Klappe trägt): Als Samuele mit einer Steinschleuder erst Kakteen zu Fetzen schießt, um sie dann mittels Klebeband wieder zusammenzuflicken, könnte man dies als Bild der westlichen Gesellschaft sehen, die an den Gründen für die Flucht aus den Krisengebieten nicht unschuldig ist und eher die Symptome als die Ursachen bekämpft. Doch egal, wie eine politische Lösung des Gesamtproblems aussehen mag – es fällt schwer, Bartolo zu widersprechen: „Wer sich nur halbwegs als Mensch empfindet, hat die Verpflichtung, zu helfen.“