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Natalie Portman als Jackie
Jackie (2016, R: Pablo Larraín)

Jackie | Neruda

Ein Präsident am Hof von König Artus

| Jörg Schiffauer |
Mit den Filmen „Jackie“ und „Neruda“ beleuchtet Pablo Larraín das Spannungsfeld zwischen Mythos und Wahrheit.

John Ford hat es bereits 1962 auf den Punkt gebracht: Als am Ende seines Klassikers The Man Who Shot Liberty Valance der von James Stewart gespielte Ransom Stoddard einen Zeitungsredakteur drängt, doch endlich nach vielen Jahren richtigzustellen, dass nicht er die Region von dem berüchtigten Banditen Valance befreit hat – die vermeintliche Heldentat begründete die politische Karriere von Stoddard, der mittlerweile ein hochgeachteter Senator ist –, sondern dem eben verstorbenen Rancher Tom Doniphon die Ehre gebührt. Doch der Journalist weigert sich überraschenderweise die Geschichte neu und richtig zu schreiben, er begründet seine Entscheidung mit einem mittlerweile legendären Satz „When the legend becomes fact, print the legend!“ Es erscheint treffend, dass ausgerechnet diese Replik Filmgeschichte geschrieben hat, denn kaum jemand hat das Bild jener Epoche die den Übergang vom „Wilden Westen“ zum Amerika moderner Prägung im kollektiven Gedächtnis weltweit so mitgeprägt wie John Ford. Dass seine fiktionalisierten Darstellungen des „Frontier“-Mythos von der historischen Wahrheit abweichen, spielt mittlerweile selbst bei denen, die um diese Diskrepanz genau Bescheid wissen nur mehr eine untergeordnete Rolle.

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Nun wird man nicht bestreiten können, dass die Konstruktion des eigenen Bildes – der englische Begriff „image“ wird in seiner vielfältigen Bedeutung der Sache weitaus gerechter – und vor allem die mediale Verbreitung in all ihren gegenwärtigen Facetten zu einem entscheidenden Faktor im politischen Diskurs geworden ist, der Fragen über Wahrheit oder Inhalte in den Schatten stellt – samt allen damit verbundenen Widrigkeiten. Dass dies jedoch keineswegs ein neues Phänomen ist, macht Pablo Larrain anhand zweier biographischer Annäherungen deutlich. Die dafür ausgewählten Protagonisten könnten zunächst nicht unterschiedlicher sein. Jacqueline Kennedy wurde als Präsidentengattin zunächst als modische Stilikone gefeiert, ehe sie nach der Ermordung von JFK auf tragische Weise die weltweiten Schlagzeilen dominieren sollte, Pablo Neruda, der für seine Lyrik mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde gilt als Symbolfigur der Linken von Lateinamerika bis Europa.

Larrain, der sich in seinem viel gelobten No! mit einer unkonventionellen politischen Kampagne, die in seiner chilenischen Heimat 1988 stattfand, auseinander gesetzt hat, arbeitet sich klugerweise nicht im Rahmen eines konventionellen Biopics entlang vermeintlich maßgeblicher Stationen oder griffiger Anekdoten an den Lebensgeschichten seiner Protagonisten ab. Stattdessen konzentriert er sich sowohl in Jackie als auch in Neruda auf jeweils einem Schnittpunkt, um der Persönlichkeit hinter dem öffentlich wahrgenommenem Bild näherzukommen.

Die Tage danach

In Jackie fokussiert Larrain auf die Zeit unmittelbar nach der Ermordung John F. Kennedys am 22. November 1963. Zum Ausgangspunkt wird ein Interview, das Jacqueline Kennedy Theodor H. White, einem Reporter des Magazins „Life“eine Woche nach dem Tod JFKs gab. Als dieser auf dem Familienlandsitz der Kennedys in Hyannis Port ankommt, erwartet ihn, der vor allem eine trauernde Witwe erwartet hat, gleich einmal eine Überraschung: Kaum hat Jackie (Natalie Portman) den Journalisten (Billy Crudup) an der Eingangstür begrüßt, beklagt sie sich darüber, dass einige politische Kommentatoren eine kritische, negative Bilanz über die Präsidentschaft ihres Mannes gezogen hatten – in diesem Interview wolle sie dafür sorgen, dass John F. Kennedys Vermächtnis ins richtige Licht gerückt wird. Theodor White ahnt bereits, welche Richtung seine Geschichte nehmen wird und vor allem wer diese bestimmt als er Jackie nur noch bestätigend fragt: „So this will be your version of what happened?“

Der stetige Bemühen Jackie Kennedys, das eigene Bild –  und damit auch ein gehöriges Stück weit auch das Bild JFKs – zu gestalten wird zum zentralen Motiv von Jackie. Von der Interview-Situation ausgehend, rekonstruiert Larrain mittels Rückblenden nicht nur jene traumatischen Tage im Leben Jackie Kennedys von der Ermordung JFKs bis zu seinem Begräbnis sondern auch prägende Momente, die sie im Lauf seiner Präsidentschaft erfahren hatte. Dieser Prozess der Erinnerung verläuft nicht als exakte, chronologisch ablaufende Rekapitulierung sondern vielmehr so wie das menschliche Gedächtnis – im Fall von Jackie Kennedy noch dazu in einer extremen Stressfunktion – funktioniert: zeitlich weitgehend ungeordnet, manchmal nur bruchstückhaft, scheinbare Nebensächlichkeiten in den Vordergrund rückend. Es mag überraschen, dass die erste Rückblende und damit die erste Erinnerung sich nicht mit dem Attentat in Dallas befasst, sondern jenen Tag in den Mittelpunkt rückt, an dem Jackie ein Kamerateam des Senders CBS einige Monate nach JFKs Amtsantritt durch das Weiße Haus führt. Doch genau dieser Moment markiert in gewisser Weise den Versuch Jackies nicht mehr nur Objekt der medialen Berichterstattung zu sein zu sein sondern das eigene Bild – welche besondere Bedeutung sie dabei dem Fernsehen zumisst, wird sie Theodore White gleich zu Beginn ihres Gesprächs klargemacht haben – sehr zielgerichtet in Szene zu setzen. Die ersten Versuche dieser Selbstinszenierung wirken noch ein wenig ungelenk, Jackies Sekretärin und langjährige Vertraute Nancy Tuckerman (Greta Gerwig) muss wiederholt korrigierend eingreifen.

Dass Jackie dass Spiel in den nicht einmal drei Jahren, die John F. Kennedys Präsidentschaft währte, gelernt hat, wird im Verlauf des Interviews mit White immer wieder deutlich. Als ihr der Journalist während des Gesprächs einen Teil seiner Aufzeichnungen vorliest und beschreibt, wie sie eine Zigarette raucht, verbessert sie ihn freundlich aber bestimmt: „But I don’t smoke.“ – und zieht dabei genüsslich an ihrer Zigarette. Das Spannungsfeld zwischen der Person des öffentlichen Lebens als Präsidentengattin und dem Menschen Jackie Kennedy samt allen Stärken und Schwächen ist ein weiteres zentrales Element des Films. Ein Gegensatz, der deutlich wird, als im Interview mit Theodore White Jackie bei der Erinnerung an jenen Moment als JFK von den tödlichen Schüssen getroffen wird, verständlicherweise von ihren Emotionen überwältigt, zu weinen beginnt. Doch sie gewährt sich selbst nur einen Moment dieser vermeintlichen Schwäche. „Glauben Sie nur ja nicht, dass sie das veröffentlichen werden“ herrscht sie den Journalisten an – sofort wieder eiskalt die Szenerie beherrschend. Auch formal gelingt es Larrains Inszenierung dieses Spannungsfeld kongenial widerzuspiegeln. Historisch verbriefte Szenen, wie jene mit dem ikonographischen Bild, das Jacqueline Kennedy im blutbefleckten rosa Kleid bei der hastig improvisierten Angelobung Lyndon B. Johnsons an Bord der Air Force One zeigt, die akribisch rekonstruiert werden, nachgestelltes Footage-Material und fiktionale Szenen formen sich zu einem Mosaik, das die von Jackie Kennedy intendierte Inszenierung in Bildern präsentiert, die mittlerweile als geradezu kanonisiert gelten, jedoch auch geschickt auf die Mechanismen dieser Inszenierung verweist.

Das all dies so glänzend funktioniert und sich zudem zu einem vielschichtigen Psychogramm formt, ist neben Pablo Larrains durchdachter und präziser Inszenierung vor allem Natalie Portmans Darstellung der titelgebenden Protagonistin geschuldet. Portman versteht es dabei nuanciert die höchst unterschiedlichen Facetten eines durchaus ambivalenten Charakters freizulegen. Ihr Spiel ist dabei jedoch bei aller Intensität auch von Empathie für ihre Figur geprägt, die den schwierigen Stand dieser Frau, die zunächst eher unfreiwillig in den medialen Mittelpunkt gerückt wurde und erst nach und nach sich ihren Platz als eigenständige Persönlichkeit inmitten des politischen Zentrums Washingtons erkämpfen musste. Von der selbstbewussten First Lady, die ihre Stellung zielorientiert einzusetzen weiß bis hin zur Witwe des Präsidenten, die nach außen Haltung bewahrt jedoch vom Schmerz über den Tod von JFK zeitweilig fast erdrückt wird. Da bleiben auch Auch Momente wie jener in der Nacht nach seiner Ermordung im gespenstisch leeren Weißen Haus, als Jackie noch einmal allein am großen Esstisch Platz nimmt und sich ein Menü aus Alkohol und Tabletten zubereitet nicht ausgespart.

Auf der Flucht

Geradezu als komplementäre Arbeit was das Verhältnis zwischen Mythos und Wahrheit angeht erscheint Neruda, den Pablo Larrain knapp vor Jackie fertig stellen konnte. Larrain hat sich für eine ähnliche narrative und dramaturgische Strategie entschieden, um sich auf die Spuren des Literaturnobelpreisträgers – oder präziser formuliert, einem Teil seines Images – zu begeben. Als Schnittpunkt seiner Biographie wählt Larrain das Jahr 1948. Pablo Neruda hat es als Dichter zu weltweiten Ruhm gebracht, politisch hat er sich insbesonders seit seinen Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg leidenschaftlich für die Linke engagiert, ist Mitglied der Kommunistischen Partei seines Heimatlandes Chile. Als Präsident Gabriel González Videla nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem aufkeimenden Kalten Krieg einen strammen antikommunistischen Kurs einschlägt, wird er von Neruda dafür wiederholt scharf kritisiert. Als gewählter Senator genießt der Dichter Immunität, doch als die Kommunistische Partei verboten wird und ihre Abgeordneten die Mandate entzogen werden, droht sogar dem populären Pablo Neruda die Verhaftung. Was zunächst keine Panik auslöst, recht entspannt diskutiert Neruda (Luis Gnecco) mit Freunden und Parteigenossen in seinem großzügigen Anwesen ob er sich der Verhaftung entziehen oder sich doch lieber den Behörden stellen solle. Dabei kalkuliert man noch nicht das mögliche persönliche Risiko ein, sondern welche der Optionen den größeren propagandistischen Effekt erzielen könnte. Nur bloß verstecken kommt für Neruda nicht in Frage – „Es muss schon eine wilde Jagd sein“ merkt er launig an. Obwohl die Ausgangslage durchaus ernst ist, wird rasch deutlich, dass der narrative Grundton in Neruda eher sarkastisch und zeitweilig auch ein wenig nonchalant geprägt ist, während hingegen Jackie einen Erzählduktus aufweist, dessen eisige Kälte dem Drama um den Tod von JFK gerecht wird und die sich in den im sechziger-Jahre-Retro-Look gehaltenen Bilder von Kameramann Stéphane Fontaine kongenial widerspiegelt.

Als sich Pablo Neruda sich schlussendlich doch dafür entscheidet, mit seiner Frau in den Untergrund zu gehen, ist diese Unterfangen von Anfang an von einem Maß an Absurdität durchdrungen. Stets behütet und begleitet von seinen Anhängern zieht Neruda von einer Unterkunft zur anderen, wobei er sich mehr über die fehlenden Annehmlichkeiten der diversen Räumlichkeiten Sorgen zu machen pflegt als über die Gefahr von den Sicherheitskräften aufgespürt zu werden. Die Dualität des Charakters des großen Poeten wird in den eineinhalb Jahren, die er sich auf der Flucht quer durch Chile befinden wird und die das Zentrum von Neruda bilden, immer wieder in den Vordergrund gerückt. Pablo Larrain porträtiert ihn dabei als charismatischen Menschen und großen Künstler, der in dieser Zeit sein monumentales Hauptwerk, „Canto General“ vollenden wird, jedoch auch eitel und selbstgefällig agieren kann, ein Bonvivant mit auch eher unangenehmen Seiten, der seine Sekretärin ungeniert begrapscht – und das sogar in Gegenwart seiner Frau, die den Zufluchtsort eben nicht so einfach verlassen kann. Es ist ein Bild, das stark von jenem abweicht, das Pablo Neruda gern von sich zeichnen lässt, das prominente Freunde wie Pablo Picasso unermüdlich in Europa verbreiten. Dabei wird Neruda als umtriebiger politischer Aktivist präsentiert, der ungeachtet der Gefahren und Mühen, die das Leben auf der Flucht mit sich bringt, quasi Tag und Nacht die Fäden zieht, um die Revolution voranzutreiben.

Eine Widersprüchlichkeit, die Pablo Larrain mittels eines Kunstgriffs zuspitzt. Die Suche nach Neruda wird nahezu ausschließlich aus der Perspektive eines Ermittlers namens Óscar Peluchonneau (Gael Garcia Bernal) gezeigt, wobei Jäger und Gejagter schon bald eine bizarre symbiotische Beziehung eingehen. Neruda hinterlässt dem Polizisten immer wieder Kriminalromane, die der Ermittler bei der Suche nach dem Dichter findet, die versteckte Hinweise für die weitere Fahndung enthalten aber Peluchonneau auch deutlich vor Augen führen, dass seine Bedeutung primär über die Fahndung – die sich immer mehr als groteskes Katz-und maus-Spiel erweist – nach Neruda definiert wird. Ein Profil, das sich der Ermittler bereitwillig aneignet, befindet er sich als unehelicher Sohn eines hochrangigen Polizeioffiziers doch in einer lebenslangen Identitätskrise. Die Figur des Óscar Peluchonneau erfüllt zudem eine weitere dramaturgische Funktion, seine umfangreichen voice-over-Kommentare verweisen explizit auf die Diskrepanz zwischen dem Bild, das Pablo Neruda von sich zeichnet oder zeichnen lässt und der realen Figur. Dass die klare Trennung zwischen Mythos und Wahrheit jedoch nicht immer eine klare und einfache Sache ist, versucht Larrains Inszenierung am Ende zu verdeutlichen, indem die Verlässlichkeit der eigenen Narration – der dramaturgische Kniff soll hier nicht verraten werden – in Zweifel gezogen wird. Das hat zwar eine gewisse innere Logik, wirkt jedoch bei aller formalen Eleganz auch ein wenig manieriert, wie Pablo Larrain überhaupt seine Thesen zur Konstruktion des eigenen Bildes in Neruda ziemlich apodiktisch formuliert. – nicht immer zum Vorteil, was die narrative Homogenität angeht.

Jackie erweist sich da als deutlich gelungenere Arbeit, deren komplexe narrative Struktur mit ihren unterschiedlichen Zeitebenen und visuellen Auflösungen der Vielschichtigkeit seines Sujets gerecht wird. „ People like to believe in fairytales“ wird Jacqueline Kennedy anmerken, um zu erklären, warum sie ihren Mann und sein politisches Wirken in einem ganz bestimmt Licht erinnert haben möchte. Das erscheint jedoch nicht nur Selbstzweck oder persönliche Eitelkeit, sondern aus der Notwendigkeit, die Erinnerung an John F. Kennedy als Hoffnungsträger ganzer Generationen aufrechtzuerhalten, einfach um den Glauben an die Möglichkeit eine bessere, gerechtere Welt fortzutragen. Dass es dazu politische Lichtgestalten – auch wenn diese idealisiert erscheinen – zeitweilig brauchen kann, erscheint gerade heute mehr als opportun. Es macht auch jene etwas pathetische Vorstellung nachvollziehbar, die Jackie von JFK zeichnen möchte, als sie das Weiße Haus unter seiner Präsidentschaft mit dem Hof der Sagengestalt König Artus vergleicht. Eine Art modernes Camelot, an dem sich edle und weise Männer, elegante Frauen und große Künstler treffen, um ihre Gedanken auszutauschen. Ein zugegeben romantisiertes Bild, an das wir aber durchaus gern glauben wollen. Wie Jackie am Ende des Films aus einem Songtext des Musicals „Camelot“, das sich der klassisch gebildete John F. Kennedy zur Entspannung immer gern anzuhören pflegte, zitiert: „ Don’t let it be forgot that for one brief shining moment there was a Camelot.“