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Certain Women

Montana Stories

| Michael Pekler |
Mit „Certain Women“ hat Regisseurin Kelly Reichardt drei Kurzgeschichten von Maile Meloy zu einem bemerkenswerten Episodenfilm kompiliert. Und ist sich dabei trotz Starbesetzung als Filmautorin treu geblieben.

Es sind keine schöne Welten, die man in den Filmen von Kelly Reichardt zu sehen bekommt. Großstädtische Atmosphäre findet man in ihnen ebensowenig wie ländliche Idylle. Es sind vielmehr Orte, die man im Vorübergehen kennenlernt. Man betritt sie mit den Figuren, hält sich kurze Zeit an ihnen auf und nimmt sie als das wahr, was sie sind: Umgebung. Ein Umfeld für die Menschen, die an ihnen wohnen, arbeiten oder gerade auf der Durchreise sind, was in den Filmen von Kelly Reichardt oft dasselbe bedeutet. Das heißt aber nicht, dass diese Orte ohne Wirkung blieben. Sie prägen die Erzählungen ebenso wie die Geschichten, die Reichardt ihren Figuren mit auf den Weg gibt. Denn von den Menschen und den Orten erzählen die Filme Reichardts bloß in Form von Ausschnitten, manchmal gar nur in Bruchstücken – in denen sich dennoch alles findet.

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Certain Women ist in dieser Hinsicht der vorläufige Schlusspunkt dieser Entwicklung. Reichardt, die zum ersten Mal ohne ihren langjährigen Partner Jon Raymond alleine für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, verbindet in ihrem jüngsten Spielfilm drei Geschichten über Frauen aus Montana in einer bemerkenswert losen Form zu einem Episodenfilm, der gerade noch an wenigen Nahtstellen zusammengehalten wird. Bereits mit der ersten Erzählung ist man mittendrin, wird man als Zuschauer förmlich hineingeworfen in diesen Film: Die Anwältin Laura Wells (Laura Dern) geht in der Mittagspause mit einem Unbekannten ins Bett, der sich später als Ehemann einer anderen Protagonistin, der jüngeren Gina Lewis (Michelle Williams), herausstellt. So einfach ist das, und so unaufgeregt ist das inszeniert. Als Randnotiz im Alltag, keine Gefühle, keine große Sache. Ein Ausschnitt aus dem Leben einer schon etwas älteren Frau, die gerade versucht, die nötige Distanz zu einem Klienten aufrecht zu erhalten, dessen Arbeitsrechtsklage zum Scheitern verurteilt ist und der ihr deshalb seinen Selbstmord in Aussicht stellt. Doch wie etwas passiert, ist bei Reichardt ohnehin weniger wichtig, als was passiert. Wenn man zu Beginn der zweiten Geschichte das Ehepaar Lewis beobachtet, wie es sich gerade ein Haus bauen will, weiß man sofort, dass dieses Dach nicht auf festem Fundament errichtet sein wird.

„Both Ways Is the Only Way I Want It“ heißt der Erzählband der US-Autorin Maile Meloy, aus dem die Erzählungen in Certain Women stammen. Das ist nicht nur ein schöner, sondern auch ein passender Titel für die Arbeiten Reichardts, die stets von der Möglichkeit eines abweichenden Weges handeln. Das muss nicht unbedingt eine Abkürzung durch die Wüste sein, wie sie die Siedler in Meek’s Cutoff (2010) suchen, die sich einem fremden Trapper anvertraut haben und nun fürchten müssen, in Wahrheit vom Weg abgekommen zu sein, sondern auch ein solcher, der die Figuren zu sich selbst führt – auch wenn er, wie etwa für die Umweltterroristen in Night Moves (2013), fatal endet. Das ist ein wesentliches Charakteristikum von Reichardts Erzählungen, vielleicht noch vor den ästhetischen und formalen Besonderheiten: die Suche der Menschen nach einem Platz in einer Welt, die einen dazu anhält, immer nach einem Ausweg zu suchen. Nach einem neuen Lebensweg.
Obwohl sie bereits 1994 mit River of Grass ihren ersten Langfilm drehte, begann Reichardts Karriere als Filmautorin im Grunde erst mit dem zwölf Jahre später entstandenen Old Joy (2006). Basierend auf einer Kurzgeschichte von Jon Raymond erzählt Reichardt vom Ausflug zweier Freunde in die Wälder Oregons, wo die Verbundenheit aus alten Tagen wiederbelebt werden soll. Reichardts minimalistische Inszenierung fängt die Stimmung zwischen den beiden Männern, die ihre Hoffnung auf die Natur und die Nostalgie setzen, treffsicher ein: als ein ständiges Nebeneinander an Stimmen und Schritten. Eine innere Unruhe prägt Mark (Daniel London) und Kurt (Will Oldman), deren Leben sich so unterschiedlich entwickelt hat, zum werdenden Vater der eine, zum Herumtreiber der andere. Old Joy beschreibt den Versuch eines Abgleichs des eigenen Lebensmodells am jeweils anderen. Stimmt es noch oder hat man sich gar verlaufen, ohne dass man es bemerkt hat?
Reichardt stellt diese Frage in all ihren Filmen eindringlich und herausfordernd, als schmerzhafte Vermessungen einer amerikanischen Gegenwart. Man könnte sogar behaupten, sie sind amerikanischer als jedes Genrekino. Sie erzählen von Leuten, nach denen man sich auf der Straße nicht einmal umdrehen würde, oder von solchen wie Wendy, die in ihrem Auto von einem Polizisten geweckt wird, weil sie darin die Nacht auf einem Parkplatz verbracht hat. Wendy and Lucy (2009) ist Reichardts erster großer Erfolg, zugleich der Beginn der Zusammenarbeit mit Michelle Williams, die bis Certain Women andauern wird. Zu Beginn des Films sieht man die junge Frau mit dem burschikos kurzen Haar am Lagerfeuer einer Gruppe Landstreicher sitzen, zu denen auch der bärtige Kurt aus Old Joy gut passen würde. So richtig dazugehörig fühlt sich Wendy, die mit ihrem Hund Lucy auf dem Weg nach Alaska ist und dort in einer Fischfabrik Arbeit zu finden hofft, allerdings nicht. Es sind die Reste einer Hippiekultur, an die Wendy, ein moderner Hobo, nicht mehr anschließen kann und will. In Wendy and Lucy richtet Reichardt zum ersten Mal ihre Aufmerksamkeit explizit auf die sozialen Verhältnisse: Als Wendy beim Ladendiebstahl erwischt wird, weil sie für ihren Hund dringend Futter benötigt, landet sie wegen eines übereifrigen Angestellten auf dem Polizeirevier. Bei ihrer Rückkehr ist Lucy verschwunden, und Wendy sitzt im Niemandsland fest. Aus der Durchreise ist ein erzwungener Aufenthalt geworden.
Das ist vielleicht die größte Herausforderung, die den Figuren Reichardts widerfahren kann: dass sie immer in Bewegung sein müssen, dass die Umstände sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Und dass sie Gefahr laufen, das Ziel aus den Augen zu verlieren. Denn natürlich wartet in Alaska niemand auf Wendy, um ausgerechnet ihr einen Job zu geben, und niemand kann sagen, ob sie es überhaupt jemals dorthin schaffen wird. Genausowenig wie in Meek’s Cutoff der amerikanische Traum der puritanischen Siedler vielleicht schon längst in Schmutz und Sand begraben wurde. Und ob die drei jungen Ökoterroristen in Night Moves mit der Sprengung eines Staudamms ihr eigentliches Ziel erreicht haben, diese Frage ist recht bald beantwortet, wenn die Gruppe nach dem Anschlag auseinanderbricht und sich Schuldgefühle und Verfolgungswahn breitmachen. „Night Moves“ heißt auch das mit Sprengstoff gefüllte Boot, das an den Damm gelenkt wird, und ständig in Bewegung bleiben müssen auch die Terroristen bei ihren versteckten und oft nächtlichen Vorbereitungen. Doch erst wenn nach dem Anschlag jeder für sich zum Stillhalten gezwungen ist, folgt die wahre Belastungsprobe. Man müsse ein paar Dutzend Dämme sprengen, um den natürlichen Zustand des Tals wieder herzustellen und den Boden vor dem Austrocknen zu bewahren, meint ein Farmarbeiter des kleinen landwirtschaftlichen Kollektivs zu Josh (Jesse Eisenberg), als dieser am Morgen nach dem Anschlag wieder an seinem Arbeitsplatz auftaucht. Ein einziger Satz führt die Absurdität der Tat vor Augen.
Reichardt nimmt in ihren Arbeiten wiederholt gezielt Anleihen am Genrekino – dem Roadmovie, dem Western und Thriller –, verwendet es aber nur als Rahmen, in den sie ihre durchlässigen Erzählungen einpasst und die das jeweilige Genre aufbrechen. Auch Certain Women entzieht sich den gängigen Kriterien des Episodenfilms und erweist sich in mehrfacher Hinsicht als brüchig: Weder steuern die einzelnen Erzählungen auf einen gemeinsamen Höhepunkt zu, noch gibt es einen Ort, an dem sich die Schickale kreuzten. In der letzten Episode, die in ihrer stillen Melancholie an die Kurzgeschichten von Annie Proulx erinnert, trifft die Pferdepflegerin Jamie (Lily Gladstone) als Schülerin einer Abendschule auf die Lehrerin Beth Travis (Kristen Stewart). Reichardt übersetzt diese heimliche und einseitige Liebe in wiederkehrende Bilder mit dem Ausdruck tiefster Sehnsucht. Immer wieder öffnet sich das riesige Scheunentor der Farm und gibt den Blick frei auf die sich verändernde Landschaft im Nordwesten der USA, während für Jamie als einziger Ort, um Beth nahe zu sein, ein Diner am Straßenrand bleibt. Die drei Schlusspunkte, mit denen Reichardt Certain Women beendet und gleichzeitig noch einmal zusammenfasst, wirken beinahe tröstlich. Es geht weiter, wollen uns diese Bilder sagen, es gibt eine Möglichkeit. Ein Kaffee kann verdammt gut schmecken. Mit den Steinen vom Nachbarn könnte man sein Haus beginnen. Das offene Ende muss nicht bedeuten, dass man seine Chance übersehen hat. Vielleicht hatte man auch gar keine. Aber dann ist es gut, wenigstens daran geglaubt zu haben. Und das ist gar nicht traurig, sondern schön.