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Filmkritik

Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft / La Supplication

| Andreas Ungerböck |
Beeindruckender Filmessay nach Swetlana Alexijewitschs Buch

Flehen“, „flehentliche Bitte“, das ist die wörtliche Übersetzung des Originaltitels La Supplication. Tatsächlich haben die vielen Stimmen von Augenzeugen der Reaktorkatastrophe, die von Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen werden und die wir im Laufe dieses essayistischen Dokumentarfilms hören, etwas von einer Litanei. Mit dem Unterschied vielleicht, dass diese Bittgebete allesamt ins Leere laufen, weil das, was sie erhoffen und erflehen, irreversibel ist. In einer Milliarde Jahren, so heißt es einmal, könnte Tschernobyl wieder strahlungsfrei sein – nur ein kleiner deprimierender Hinweis auf den Irrwitz, den Menschen hier angerichtet haben.

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Die Grundlage des Films, den der luxemburgische Regisseur Pol Cruchten, wie er selbst sagt, „in drei Etappen“ im verseuchten Gebiet gedreht hat, ist die beklemmende Reportagensammlung „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ der späteren Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Wie ihre anderen Bücher (u.a. zum Afghanistan-Krieg und zum Thema Selbstmord) ist auch dieses eine schonungslose Abrechnung, hier mit einem politischen System, das alles dafür tat, um die Katastrophe und die fatalen Folgen für die Bevölkerung zu vertuschen. Allein die Tatsache, dass wochenlang weiterhin und bewusst verstrahlte Milch an die Menschen verkauft wurde, ist unfassbar. Dazu brauchte Alexijewitsch keine Polemik, sondern die schlichten Aussagen von Betroffenen, Sterbenden oft, die in der weißrussischen Journalistin zum ersten Mal überhaupt jemanden fanden, der ihnen zuhörte. Und allmählich beschleicht einen beim Lesen das Gefühl, dass es gar nicht so sehr um die Sowjetunion oder um den Reaktorunfall allein geht, sondern um die Menschheit und deren Zukunft an und für sich – daher auch der zunächst etwas rätselhafte Untertitel „Eine Chronik der Zukunft“.

Pol Cruchten, das macht seinen Film so bemerkenswert, vertraut ebenfalls auf die Stimmen. Die Aussagen, die er ausgewählt hat, die Ereignisse, von denen sie erzählen, sind so unglaublich, dass keine Science-Fiction sie erfinden hätte können. Und wenn Cruchten meint, für ihn sei die Tonebene im Film wichtiger als die Bilder, dann ist das ein klarer Fall von Understatement: Die Aufnahmen des zu Recht vielgepriesenen österreichischen Kameramannes Jerzy Palacz sind für sich allein genommen ein Kunstwerk, manchmal so betörend schön, wie Tod und Verfall eben auf perverse Weise schön sein können, manchmal so schmerzhaft, dass man kaum noch hinschauen kann. „Eine Reise ans Ende der menschlichen Seele“, heißt es im Presseheft zum Film, und man kann dem nur zustimmen.